Familiengeschichten
Achim
Interview aufgezeichnet: von Pauline Reinhardt 19.11.2020

Achim

Im November 2020 habe ich meine Großtante Ursula und meinen Großonkel Achim angerufen, um mit ihnen über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit zu sprechen. Er wurde 1940 geboren, sie 1941. Ursula ist die Tochter von Else und Hermann. Else und Hermann hatten sieben Kinder, ein weiteres davon war Ruth, meine Großmutter mütterlicherseits.

Und wie geht’s euch?

Och Pauline, uns geht’s so lala. Wir freuen uns über jeden Tag, den wir morgens zusammen aufwachen können [lacht] und den Tag zusammen verbringen. Du willst mich interviewen!

Genau! Wo bist du denn aufgewachsen?

Ich bin ein Kriegskind, aufgewachsen in Breslau [Wroclaw] und habe den ganzen Schlamassel in Breslau mitbekommen.

Ich weiß noch wie die Russen Breslau angegriffen und auch bombardiert haben. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst. Da sagte man, wenn die angreifen, dann setzen sie Lichterbäume. Jedenfalls: Mama hat mich dann mal hochgehoben, damit ich aus dem Fenster gucken konnte und mir das ansehen. Das war ja an sich verboten, wir hätten schon längst im Keller sein müssen. Die war auch ungehorsam, die wollte auch was sehen.

Als dann die ersten Bombenangriffe auf Breslau stattgefunden hatten, da lagen den einen Morgen auch mal drei Blindgänger bei uns auf dem Hof. Da haben wir alle einen großen Bogen drum gemacht und zugesehen, dass die bald abtransportiert worden. Das ist dann auch bald geschehen. Das waren ganz schöne Brocken, die da rumlagen. Wenn die noch mal hochgegangen wären, das wär aber nicht so gut ausgegangen.

Und hatten deine Eltern nie Angst?

Ich war mit Mama alleine da. Mein Vater wurde 1937 eingezogen, das war damals die zweijährige Dienstpflicht für Männer vom Weltkrieg. Die zwei Jahre waren um, dann ist er 1939 nach Hause gekommen und dann hat er [lacht], ich sag jetzt mal, den Grundstein für mich gelegt [lacht]. Und dann ist er wieder abgehauen.

Und den einen Tag, das muss 1945 im Sommer gewesen sein, jedenfalls ganz, ganz heiß. Wie das richtig zusammenhängt, kann ich dir nicht sagen, Pauline. Jedenfalls wurde da ein Untergrundkämpfer oder was-weiß-ich, jedenfalls ein Pole oder Russe – Polen waren ja inzwischen auch dagewesen, eingebürgert worden. Der wurde erschossen. Und irgendwas war mit dem gewesen, ob sie die Identität noch nicht richtig festgestellt hatten.

Jedenfalls an diesem heißen Sommertag musste Mama dann auch los und diesen Toten wieder mit ausbuddeln [ausgraben]. Und die hat mich mitgenommen. Ich war da nicht direkt am Grab, ich war so ungefähr zehn Meter entfernt. Die hat mich dann da auf einem Rasenstück abgelegt oder abgesetzt und gesagt: „Da bleibst du sitzen!“ Und dann haben die diesen schon verwesten Körper oder teilverwesten Körper ausgegraben und zur Obduktion wieder freigemacht.

Als der Russe schon ganz nah an Breslau rankam, dann gab es ja diese Gauleiter und die haben die Bevölkerung dazu verdonnert: „Bis zum letzten Mann, keiner verlässt Breslau!“ Bis zum letzten Mann sollte man schuften und verteidigen und was-weiß-ich-alles, was da proklamiert wurde. Dieser Gauleiter, als es dann ganz brenzlig wurde, ist er als Erster geflüchtet. Mit dem letzten Flugzeug, was von Breslau starten konnte.

In der Innenstadt haben sie die Danziger Straße [?] – die wurde hauptsächlich bombardiert, das war so ziemlich City. Da mussten die Frauen die Trümmer beiseite räumen und da wurde dann ein Rollfeld angelegt für diese Herren, damit die flüchten konnten. Extra für so ein paar Ganoven.

Das erste Mal sind wir im November oder Dezember, das weiß ich nicht mehr so genau, geflüchtet. Da sind wir, wie weit weiß ich nicht, wie weit man zu Fuß an einem Tag kommen kann, wenn schon Schnee liegt. Jedenfalls sind wir dann nicht weitergekommen. Wir haben in einem Dorf übernachtet, wir wurden dort gut bewirtet. Das war ein Bauernhaus, wo wir untergekommen sind mit mehreren Geflüchteten. Am anderen Morgen standen plötzlich Russen [?] auf dem Hof und haben uns alle wieder zurückgejagt nach Breslau. „Keiner verlässt Breslau!“ Naja. Dann haben wir noch bis Mai 1946 dort gehaust und dann haben uns die Russen rausgejagt, dann mussten wir weg.

Von der Reise an sich weiß ich nicht viel. Wir sind die meiste Zeit mit dem Zug gefahren. Wie wir hier in Hoya auf dem Bahnhof angekommen sind, standen da schon einige Fuhrwerke von den einzelnen Dörfern und die haben uns abgeholt. Da haben Mama und ich und noch eine Frau in einem Stall geschlafen. Knechtekammer war da gewesen. Da haben wir zu dritt drin gehaust. Ein Bett, eine Strohmatratze und dann noch eine Decke. Dann haben wir da gehaust und dann kam ja dieser strenge Winter noch dazu: Januar, Februar. Die Weser ist übers Ufer getreten. Da sind wir den einen Morgen aufgewacht und in dem Stall – das war nur eine einsteinige Wand, war ja auch hauptsächlich für Knechte und fürs Vieh gedacht. Als wir den einen Morgen wach wurden, sind wir erstmal gleich zur Fußwaschung gekommen. Unfreiwillig, weil das Wasser von der einen Seite reinlief und auf der anderen Seite ist das Wasser wieder rausgelaufen [lacht]. Tja, das war schön, Pauline!

Dann haben wir dort noch bis Juni, Juli gewohnt und dann haben wir hier in Altenbücken eine Wohnung bekommen. Wir hatten das Glück bei Krügers unterzukommen. Mama und ich, wir kriegten nur ein Zimmer da oben. Da konnten wir auch einen Ofen aufstellen, der wurde von der Gemeinde geliefert.

Mein Vater der ist wie gesagt 1948 oder 1949 aus der Gefangenschaft gekommen. Das war ein paar Tage vor ihrem Hochzeitstag. Im November war das gewesen. Da kann ich mich noch dran erinnern. Wir wurden wach. Unten pfiff immer einer und Mama wurde auf einmal so ganz, ganz agil, die hat sich was übergeworfen, Fenster aufgerissen, geguckt: Ja, tatsächlich! Da stand ihr Mann Herbert unten und hat gepfiffen. Er wusste ja auch nicht – das war fünf, sechs Uhr morgens, als er hier irgendwo von Eystrup her angekommen ist, was weiß ich.

Der war weitläufig in Sibirien gewesen und in Gefangenschaft dann nach dem Kriege. Er war in einem Bleibergwerk beschäftigt. Als er nach Hause kam, das war so ein Strichmännchen gewesen, hatte 94 oder 96 Pfund noch [42 oder 43 Kilogramm] gewogen. Was der Vater im Krieg erlebt hat, da hat er nicht groß drüber gesprochen. Das war ganz, ganz selten, dass er mal von Kriegserlebnissen gesprochen hat und wenn, war die Stimmung bei ihm auch immer gleich…

Mich würde noch interessieren: Wie war das damals, als ihr in Hoya angekommen seid, war es schwer für deine Eltern neu anzufangen?

Ja, das war ganz schwer.

Und wie haben die Leute damals darauf reagiert, dass jetzt Flüchtlinge im Ort sind?

Das war hier gar nicht so einfach. Wir hatten auf der Flucht schon eine Halbjüdin kennengelernt, die ist auch mit bis nach Altenbücken gekommen. In Altenbücken sind alles nur Bauern gewesen. Da gab es dann auch so Häuslingshäuser [Häuslingshaus/Gesindehaus: Häuser auf wohlhabenden Höfen, in denen die Mägde und Knechte lebten].

In einem Häuslingshaus hat die Frau Kretschmer, so hieß die, ein Zimmer gekriegt. Da ist dann noch ein Weißrusse dazugestoßen, der hat für meine Mama, die Frau Kretschmer, und die Frau Hirsch – das waren die drei, die sich auf der Flucht kennengelernt haben. Die haben zusammen viel unternommen, Essen und was-weiß-ich-alles organisiert.

Und diese Jüdin, die hat geraucht – und zwar Pfeife. Und hat auch andere Sachen geraucht, wenn sie mal was hatte und kriegte. Da ist Mama mal mit mir zum Pastor hier in Bücken gegangen. Da gab’s eine Art Kleiderkammer, da konnte man jedenfalls Sachen kriegen. Da sagte der Pastor, ich weiß nicht mehr, wie der hieß: „Ja, Frau Fischer, sie kriegen alles von uns. Aber meiden sie diese Frau Kretschmer, diese Jüdin.“ „Nee“, hat Mama gesagt, „Wir haben so viel von Breslau bis hierher durchgemacht zusammen, die meide ich nicht.“ „Ja, dann tut’s mir Leid, dann können Sie nichts bekommen.“ Das war eine christliche Einstellung, nich!

Wir wurden als „Rucksackpolen“ beschimpft oder „Polaken“. Dieser Vater von diesem Schulfreund Wilhelm… Hinter dem Haus lief eine kleine Beeke [Bach] entlang und da haben wir mal länger drin gespielt. Der Vater von Wilhelm, dem Schulfreund, kam dann nach Hause und sagte: „Wilhelm! Du schasst nich mit dat Russen spelen!“, also: Du sollst nicht mit dem Russen spielen. Mit mir. Naja, das hat er dann auch sein gelassen. So war eben die Einstellung…

Und in Stendern, als Mama und ich da wohnten und noch mal in dem gleichen Gehöft umquartiert wurden, weil das Wasser da durch den Stall geflossen ist… Viele haben immer gesagt, der Bauer sei großkotzig gewesen. Aber aus meiner Sicht: Ich kann das so nicht stehenlassen!

Wir waren sieben oder acht Leute, die alle bei dem untergekrochen sind. Jeder hat Wohnung gehabt und jeder hat jeden Tag pro Kopf zumindest einen halben Liter Milch bekommen. Jeder hat Kartoffeln bekommen. Jeder hat in der Woche ein Stück Speck oder irgendsowas an Fleisch für Suppen bekommen, damit er etwas Fett hatte. Oder dieses Schmalz zum Kochen oder um es auf Brot zu schmieren. Es wurde auch selbst Sirup gekocht. Da kriegten die Familien Zuckerrüben, damit sie sich das selber kochen konnten. Großer Kessel, Feuer drunter, dann wurden die Rüben kleingeschnippelt und dann wurde Sirup gemacht. Jeder kriegte ein kleines Stückchen Gartenland.

Ich kann, Mama auch nicht, die konnten sich nicht beklagen! Das war für den Bauern eine Möglichkeit zu helfen. Das war für ihn vielleicht auch unbequem. Aber der hat das gemacht. Der hat sich meines Erachtens, soweit ich das aus heutiger Sicht beurteilen kann, vorbildlich verhalten.

Beschimpft wurde man… Das ist schon ganz, ganz lange her, Pauline. Da habe ich schon einige Jahre in Nienburg gearbeitet und ich bin nun viel über die Dörfer gefahren, musste da Kunden besuchen. Da ist mal einer neu hingezogen, der war nicht bekannt, den habe ich gesucht. Da kam da so ein kleines Bäuerchen mit seinem Pferd auf dem Acker, hat da gepflügt, auf die Hauptstraße zu. Da hab ich den gefragt, ob er die Leute kennt und ob er mir sagen kann, wo die wohnen. Da kriegte ich zur Antwort erstmal: „Is dat en Flüchtling?“ [„Ist das ein Flüchtling?“]. Ich sag: „Das weiß ich nicht.“ „Dan kenn ik den ok nich“ [„Dann kenn ich den auch nicht.“]. Das war ungefähr 15, 20 Jahre nach Kriegsende – da hat der noch diesen Hass in sich gehabt, „Flüchtling“ zu sagen. Das ist sowas Deprimierendes gewesen.

Da habe ich lange drauf rumgekaut. Dass man 20 Jahre so einen Hass haben kann auf Leute, die ihre Heimat verloren haben.

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

Spelling error report

The following text will be sent to our editors: