Familiengeschichten
Anna H.
Interview aufgezeichnet: von Franziska Lamp Wien, Österreich 10.11.2020

Anna H.

Auszug aus dem Interview mit Anna H., in welchem sie ihre Familiengeschichte erzählt & ihre Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit wiedergibt.

Ich wurde im April 1929 in Auersthal in Niederösterreich geboren. Es war ein sehr kaltes Jahr. Die Bäume haben gefroren und es ist sehr viel Schnee gelegen. Meine älteste Schwester ist 1921 geboren, die zweite 1926. Meine Eltern sind beide auch in Auersthal geboren. Der Vater meiner Mutter war Tischler, meine Großmutter führte eine Krämerei. In der Familie meines Vaters waren alle Bauern. Meine Mutter ist ins Gymnasium gegangen und hat dann in Frankreich als Erzieherin gearbeitet. Als der Erste Weltkrieg gekommen ist, war sie eine Zeit lang in Frankreich interniert.

Meine Eltern besaßen ein Lebensmittelgeschäft und eine Landwirtschaft mit verschiedenen Tieren. Später im Erwachsenenalter, zog ich mit meinem Mann nach Wien, wo unsere gemeinsame Tochter geboren wurde. Seitdem lebe ich dort sowie im Sommer in Niederösterreich, am Land.

© Anna H.: Ich (zweite von links) mit meinen Schwestern und Eltern
© Anna H.: Meine Schwestern, Eltern und ich (Zweite v. links)

Wenn ich an die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass:

… ich damals in die Hauptschule gegangen bin [Anmerkung FL: bis 14 Jahre]. Ich habe während dieser Zeit wenig gelernt, weil die Lehrer immer gewechselt haben. Im Jahr 1945 war ich schon fertig mit der Schule.

… ein Nachbar, ein Tierarzt, der als Leutnant eingerückt war, seiner Frau gesagt hat, sie solle sich vergiften, wenn die Russen kommen. Und das hat sie auch gemacht, der Mann ist aber dann nach dem Krieg zurückgekehrt. Ich selbst hatte wenig Kontakt mit den Russen. Es sind einige junge Mädchen mit den deutschen Soldaten fortgegangen. Dann wurden die Russen aus Auersthal abgezogen und ihr Hauptquartier war dann in Gänserndorf.

… für die verstorbenen Soldaten im Ort ein Requiem gehalten wurde. Es wurden Kränze geflochten und wir haben sie mit den Namen der Verstorbenen beschriftet. Von meiner Familie war mein Cousin in Rumänien vermisst und ist nicht mehr wiedergekommen. Aus meiner weiteren Verwandtschaft ist auch Leopold M. gefallen.  

… es während der Kriegszeit die Hitler-Jugend gegeben hat, wo auch ich mitgemacht habe. Im Parteiheim in Auersthal ist man zusammengekommen und ist dann zum Sportplatz marschiert und hat dort geturnt.

… in Auersthal ein Jahr lang 20 französische Gefangene [Anmerkung FL: französische Kriegsgefangene/ Zwangsarbeiter] gelebt und gearbeitet haben. In der Früh ist ein Soldat durch den Ort gegangen und hat die Franzosen in die Häuser verteilt, wo sie gearbeitet haben. Am Abend ist der Soldat wieder durch den Ort gegangen und hat alle zum ehemaligen Tanzsaal im Gasthaus zurückgebracht, wo sie schliefen. Diese Franzosen durften nur in dem Lebensmittelgeschäft des Bürgermeisters einkaufen. Meine Mutter hat dann zwischen dem Bürgermeister und den französischen Gefangenen übersetzt, denn sie konnte Französisch. Wir hatten auch einen Franzosen namens Marcel, der bei uns in der Landwirtschaft gearbeitet hat und mit dem wir uns gut verstanden haben.

© Anna H.: Meine Familie und der Franzose Marcel (Dritter v. links)

… meine Tante aus Wien ausgebombt wurde und dann zu uns aufs Land gezogen ist.

… ich und meine Schwestern zu Hause immer arbeiten mussten, z.B. von den Kartoffeln die Wurzeln heruntergeben, im Geschäft helfen, alle Lebensmittelmarken sortieren – die für den Kaffee, für den Zucker, für die Margarine usw. Am Anfang haben die Leute nur ein paar dieser Marken gebraucht, später wurden die Rationen so klein, dass alle Marken aufgebraucht werden mussten.

© Anna H.: Meine Schwestern und ich (rechts)

Wenn ich an die Zeit (unmittelbar) nach dem Zweiten Weltkrieg zurückdenke, erinnere ich mich daran, dass:  

… dann die Russen gekommen sind. Es wurde sehr viel kaputt. Ein Cousin von mir war ein Jäger und hatte ein Gewehr. Das hat er bei uns abgestellt, weil er eingerückt war. Als die Russen das Gewehr entdeckt haben, hat ein Russe nach meinem Vater geschossen, aber zum Glück nicht getroffen. Wir haben damals am Anfang des Dorfes gewohnt. Unsere Handarbeitslehrerin hat uns dann zu sich in den Keller geholt, wo wir uns versteckt haben. Da sind wir am Boden gesessen und haben so auch geschlafen. Wir hatten lange alte Kleider an, damit wir vor den Russen alt aussahen. Wir mussten dann eine Zeit lang bei Nachbarn schlafen. Wir konnten nicht gleich in unser Haus zurück, denn dort hatten die Russen ungefähr zwei Wochen lang eine Autowerkstatt eingerichtet. Erst nachdem die Russen die Werkstatt aufgelöst hatten, konnten wir wieder zurück. Aber da waren dann alle Tiere am Hof weg.

… ich mit meinen Schwestern immer die Lebensmittelmarken abschneiden, sortieren, aufkleben und auf das Nahrungsamt bringen musste. Dann haben wir Bezugsscheine bekommen. Hunger hatten wir eigentlich keinen. Aber Schnitzel hat es nur selten gegeben, nur zweimal im Jahr.

… ich den österreichischen Staatsvertrag über das Radio gehört habe, denn Fernseher hatten wir damals noch keinen.

© Anna H.: Meine Schwestern und ich (Mitte) / My sisters and I (second from the right)© Anna H.: Mein Vater/ My father© Anna H.: Meine Mutter/ My mother

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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