Bernd Müller
Bernd Müller ist aufgewachsen in Norddeutschland. Hier spricht er über seine Kindheitserinnerungen während und nach dem Krieg, über die Rolle, die Nationalsozialismus in seiner Familie spielte, und über die Geschichte seines psychisch erkrankten Großvaters.
B: Ja, ich bin Bernd. Geboren im September 1938, also kurz vor dem zweiten Weltkrieg, geboren in ——-, das ist eine Stadt 30 km nordwestlich von Hamburg, an der Unterelbe gelegen, und da haben wir gewohnt bis 1954, ich bin der Älteste von insgesamt sieben Geschwistern, und der einzige, der bewusst noch Kriegserlebnisse und Nachkriegserlebnisse berichten kann. [00:00:49] Mein Vater war in der Kommunalverwaltung, als Dezernent tätig und ist dann aber ziemlich bald durch die Kriegsereignisse und so weiter eingezogen worden und ist dann praktisch auf allen Kriegsschauplätzen des zweiten Weltkrieges als Soldat tätig gewesen. Er war von der Sache dieses Nationalsozialismus sehr stark überzeugt, er war, ich würde sagen, ein Idealist. Er hat sicherlich, also, wenn er irgendwie Zweifel hatte und so weiter, dann hat er die verdrängt und … damit sein Ideal erhalten bleibt. Und das hat er quasi die ganze Zeit hindurch auch so vertreten und selbst in der Nachkriegszeit gab es immer wieder Rechtfertigungsversuche für dieses nationalsozialistische Regime, das er ja von vornerein praktisch mitgetragen hat – ich glaube er ist 1929 bereits in die NSDAP [Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei] eingetreten und war dann in den 30er Jahren während seines Studiums auch Studentenführer und hat sich da für Arbeitslose eingesetzt im Unterelberaum. [00:02:14] Naja, ich mein, meine Mutter ist ja auch involviert gewesen in das System, die war ja BDM-Führerin, zum Beispiel. Bund deutscher Mädchen [Mädel], also typische Einrichtung der Nationalsozialisten, wo die jungen Frauen und so weiter zusammengefasst wurden und dann natürlich auch ideologisch geschult wurden, ähnlich wie die HJ [Hitlerjugend], also für die Männer. Und die dann natürlich auch mit großen Aufmärschen und so weiter beschäftigt waren, also, alles im Sinne des „Führers“ [Adolf Hitler]! [00:02:51]
Nachkriegserinnerungen
Schule
L: Weißt du in welchem Jahr du eingeschult wurdest?
B: Ja, im Herbst 44.
L: Und hat sich dann in der Schule irgendetwas geändert mit Kriegsende oder war’s für dich relativ gleich?
B: Nee, direkt nach Kriegsende hatten wir erstmal gar keine Schule. Das ging über ein paar Monate, glaube ich.
L: Aber bis dahin dann schon?
B: Ja, ja. Ja, ja, als Erstklässler und so weiter hatten wir ja immerhin auch so einen Schulweg, wo man, ja, ’ne Viertelstunde oder sowas mussten wir schon zu Fuß laufen, um zur Schule zu kommen. ’n Fahrrad hatten wir nicht, ’n Dreirad auch nicht, ’n Auto wie das heute ist hatten die Eltern auch nicht, dass sie einen bringen konnten. Das musste man schon alleine schaffen. Das heißt also der Schulweg war schon ganz schön, und der führte zum Teil auch über so offene Geschichten, das war noch nicht alles vollbebaut. Da haben wir durchaus erlebt, dass wir auf dem Schulweg durch Tiefflieger beschossen wurden. Das haben wir durchaus … dann hieß es nur „Flachlegen!“, damit wir keine Angriffsfläche bieten, für den… ja. Für uns war das normal. Ich mein, man kann das natürlich auch … das war irgendwo aufregend, also für Kinder ist sowas ja ’n Stück weit aufregend, also… Ja… Wir hatten ja auch nicht die Verantwortung und die Sorgen. [00:04:28]
Rückkehr des Vaters aus dem Krieg
B: Da hab ich eben an dem Tag draußen gespielt, bin überhaupt ’n ziemlicher draußen… ich bin ja kein Intellektueller. Ich bin also eher immer so ’n … der, der das draußen spielen und so weiter sehr liebte und immer auf Bäumen saß und, und irgendwo im Matsch wühlte, so, das ist eher mein Metier gewesen. Naja, und da war ich eben auf der… habe ich eben auf der Straße gespielt und da stand auf einmal ein … ein Mensch, ein Mann vor mir. Und ich hab meinen Vater nicht erkannt…. Mhm.
L: Weil du ihn so lange nicht gesehen hast, oder weil er auch so anders aussah?
B: Er war auch stark abgemagert, mhm, stark abgemagert. [00:05:21]
Die Alliierten
B: Wir hatten zum Beispiel neben… Neben uns wohnte eine Familie, eine Familie ——-, und, eines Tages nach 1945 stand eine Militärpolizei, englische Militärpolizei vor unserm Nachbarhaus und dann haben sie den Herrn ——- abgeholt. Der soll also während… irgendwie in den letzten Kriegsjahren irgendwie Gefangene und so weiter irgendwo… verantwortlich dafür gewesen zu sein, dass Gefangene irgendwo… ver… misshandelt worden waren oder sogar erschossen worden sind. Auf jeden Fall ist der hingerichtet worden. Also, sowas hab ich schon erlebt. Bei der Gelegenheit haben diese Militärpolizei, Polizisten dann auch gleich unser Haus mit durchsucht, obwohl wir damit gar nichts zu tun hatten. Das war dann auch so ’ne… Geschichte, dass man, das war für mich natürlich also irgendwie… Wie können sie es wagen, als Ausländer einfach in unser Grundstück einzutreten?! Da habe ich mir natürlich noch nicht klargemacht, dass es ja eine deutsche Regierung in dem Zuge gar nicht mehr gab. Das war ja… wir wurden ja beherrscht von den Besatzungsmächten. Die hatten ja… alle Macht war bei den Besatzungsmächten.
L: Das heißt die Stimmung war auch nicht gut, was die Alliierten anging?
B: Überhaupt nicht. Also bei uns zumindestens nicht. Und das ist… wir sind nicht alleine gewesen. [00:07:09]
Umgang mit Nationalsozialismus in Gesellschaft und Familie
L: Glaubst du, dass das möglich war, in der Zeit zu leben und nicht zu wissen, dass es ’ne systematische Verfolgung und letztendlich von Vernichtung gab von Jüd:innen?
B: Puhh…. puh… Also… Ich weiß es nicht, ich glaube die wenigsten Menschen haben so weit gedacht. Die haben das gar nicht für möglich gehalten, sowas. Mhm. Es war natürlich auch kein Thema. Da wurde … da wurde nicht drüber geredet und wenn da irgendwie eine Familie einfach so verschwand und kein… und man nicht wusste, was los war, das war auch kein Thema. Diese ganze Holocaust-Geschichte bzw. diese Euthanasie-Geschichte [veralteter, weil euphemistischer, Begriff, der die systematischen Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus als Teil der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ beschreibt] und so weiter, ist ja, das war ja nach dem Krieg auch ein Tabu-Thema, ’ne. Es wurde ja auch von offizieller Seite eigentlich … kaum mal zum Thema gemacht. Auch in der Politik nicht.
L: Heißt das, dass wenn das Thema auf den Holocaust kam, dass das einfach wegignoriert wurde von deinen Eltern? Oder haben sie aktiv gesagt „Nee, das kann alles nicht so sein, das war alles anders.“
B: Also ich kann mich überhaupt nicht an ein Gespräch… dass es irgendwie bewusst irgendwie zum Gesprächsthema geworden wäre, wüsste ich eigentlich gar nicht. Wie gesagt, das ist… es wurde totgeschwiegen, das Thema. Es gab ja ganz viele Leute eben auch irgendwo… eigentlich für sich… wussten, dass da irgendwo was gewesen sein musste, aber die wollten das eben auch nicht wahrhaben. Ja… [00:09:21] Ich hab das ja die ganzen ersten Jahre nach dem Krieg als ich noch voll zu Hause war, also nicht in ——-, sondern noch in Hannover, in der Lemförder Straße… Da gab’s ja solche Diskussionen auch immer wieder. Und mein Vater, mein Vater hat ja jahrelang nach dem Krieg immer noch da Rechtfertigungsversuche für die NS-Zeit und so weiter gemacht. Weil er sich selber eben auch nicht schuldig fühlte, und aber irgendwo…glaubte also da wäre was total schiefgelaufen. Der hat also zum Teil also auch Parteien unterstützt, die eindeutig nationalsozialistisches Gedankengut weitergetragen haben. Er war einfach Überzeugungstäter, Idealist auch in gewisser Hinsicht. Ich glaube das hat er auch bis zu seinem Tode nicht ganz überwunden. Das konnte er wahrscheinlich auch nicht. [00:10:34] Und das hab ich … das hab ich natürlich hautnah mitgekriegt. Und diese Euthanasie-Geschichte und so weiter, die, wie gesagt, das war ja ein Tabu-Thema. Das hab ich ja praktisch nachher irgendwann mal aufgegriffen, weil ich einfach wissen wollte was mit meinem Großvater eigentlich wirklich war, mit meinem Großvater väterlicherseits, mit dem Fotografen, der dann ja in der Heil- und Pflegeanstalt war. Aber dass der … dass der mit 99,9 prozentiger Wahrscheinlichkeit wahrscheinlich umgekommen ist an einer Vorstufe der Euthanasie, als Vorbereitung sozusagen für den Massenmord, das wusste ich nicht. Ich glaube, das wollten meine Eltern auch nicht wissen. [00:11:35]
L: Hat dein Vater noch gelebt, als du das angefangen hast zu recherchieren?
B: Nee… Nee… Aber ich kann mich noch an das versteinerte Gesicht meiner Mutter erinnern, als ich ihr die, die Todesliste vorgelegt habe. Da konnte man das nämlich absehen. Die Patientenakten waren vernichtet worden, der Heil- und Pflegeanstalt, das haben die still um nicht selber in die Schusslinie zu kommen, haben die das schnell noch beseitigt, kurz vor der Wende, und… aber die Todesliste, wann wer gestorben ist, da konnte man ja jetzt ganz deutlich sehen, dass innerhalb ganz kurzer Zeit ganz viele Leute auf einmal gestorben sind. Das passt… und das ist dann auch wissenschaftlich untersucht worden – ich hatte mich dann an eine Organisation in Pirna gewendet, also in der Nähe von Dresden, die auch auf dem Gelände einer ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt saß, wo innerhalb dieser Heil- und Pflegeanstalt in den 30er Jahren eine… Tötungseinrichtung, daraus eine Tötungseinrichtung gemacht wurde, als Vorstufe sozusagen auf … auf die Euthanasie auf Ausschwitz und diese Gaskammern. Da hat man versucht, wie schnell man… ja, also… wie … ja, wie soll ich das sagen… die wollten einfach wissen, wie man am schnellsten Menschen umbringt. Und da haben sie das, das war einer der Versuche. Und die ersten Opfer waren die Geisteskranken. Da stand für mich zuerst die Vermutung, dass mein Großvater auch vergast worden ist. Das ist er aber offensichtlich nicht – in der Heil- und Pflegeanstalt, in der er war, das war in der Nähe von Grimma, in Zschadraß… gab’s gar keine Gaskammer… Aber die sind wahrscheinlich durch Überdosis von Medikamenten und so weiter umgebracht worden. Und durch Lebensmittelmangel und so weiter. Die sind also systematisch praktisch ausgehungert worden. [00:13:59] Ja, und mein Vater, sind ja nun wirklich auch Kindheitserinnerungen meines Vaters, der eben dann diesen Werdegang der Krankheit von meinem Großvater und so weiter miterlebt hat. Die ersten Jahre ging das ja alles noch gut, aber dann wurde er zunehmend krank, kränker, und wurde dann erst… wurde dann ziemlich schnell in einer Heil- und Pflegeanstalt in der Nähe von Dresden aufbewahrt, ich glaube in Groß Schweinitz oder so ähnlich, und stand dann eines Tages, irgendein… in der Adventszeit oder gar Weihnachten, weiß ich nicht so genau, in Loschwitz wieder vor der Tür. Und vorher hatte man den Kindern – gibt ja noch ’nen älteren Bruder von meinem Vater, Lothar – hatte man den Kindern erzählt, der Vater würde gar nicht mehr leben. Das muss man sich mal vorstellen.
L: Das ist echt traumatisch.
B: Das sind Angstträume meines Vaters gewesen, der also irgendwo, er hat ja nun viel Fantasie gehabt. Der hat sich das so richtig ausgemalt… Ja…
—— = Ort oder Name zensiert
Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.