Im Dezember trafen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts „Geschichte beginnt in der Familie“ zur abschließenden Sitzung, wo sie ihre Familiengeschichten präsentieren sollten. Unter Anleitung von Mentorinnen und Mentoren führten die Jugendlichen Oral-History-Forschungen durch, zeichneten die Erinnerungen ihrer Verwandten und Freunde auf und teilten diese mit der Gruppe. Das Online-Treffen war voller Empathie, obwohl die Diskussionen in Mikrogruppen sowie im Plenum bei der Besprechung der Familiengeschichten oft sensible Themen berührten.
Obwohl ihre Lebensgeschichten unterschiedlich sind, mussten all diese Menschen ähnliche Erfahrungen machen: Leiden, Entbehrungen, Kämpfe, Schmerzen etc. Aber eine humane Behandlung kann bei der Heilung helfen. Aleksandra Oczkowicz aus Katowice (Polen), Studentin der Fakultät für Eurasische Studien an der Jagiellonen-Universität in Krakau, ist davon überzeugt. Sie zeichnete ein Interview mit ihrer Großmutter Grażyna auf, die fast 84 Jahre alt ist.
Meine Oma stammt aus einer Partisanenfamilie. Das Leben ihrer Familie drehte sich also um den Untergrund, der für die Freiheit kämpfte. Die Beziehung zu ihr war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Die Familienforschung war eine großartige Erfahrung für mich, denn das Thema Krieg wird in alltäglichen Gesprächen selten angesprochen, aber jetzt kann ich sehen, wie wichtig es für meine Oma war, ihre Geschichte zu teilen. Es war auch äußerst interessant, die Geschichten von anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu hören. Zum Beispiel die Geschichte über den Angehörigen des Mädchens aus Litauen, das heute in Berlin lebt und studiert. Als Kind musste er viel durchmachen, hat seinen Vater nie gekannt und seine Mutter während des Krieges verloren. Dann erzählte uns ein Mädchen aus der Ukraine von ihrem Angehörigen, der während des Krieges als Spion tätig war. All das gab mir den Eindruck, dass die Schicksale gewöhnlicher Menschen und auch ihre Leiden sehr ähnlich waren. Sie alle mussten ihre Nächsten verlieren, und irgendwie versuchten sie zu kämpfen. Daraus wird klar, dass es am Ende nur eine Nation gibt: die menschliche Nation.
Die Suche nach der Wahrheit und nach neuen Fakten über die Familiengeschichte ist inspirierend. Laut Mykhailo Didenko konnte er ank dem Projekt seine Familiengeschichte besser verstehen. Mykhailo kommt aus Winnyzja (Ukraine). Er studiert an der Fakultät für Internationale und Politische Studien der Jagiellonen-Universität in Krakau (Polen) und ist jetzt im fünften Semester. Er zeichnete ein Interview mit seinem Großvater Ivan Holyak auf, der 77 Jahre alt ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mein Großvater 1951 nach Sibirien deportiert, und seine Mutter starb dort. Aus der Geschichte, die ich aufgezeichnet habe, habe ich viele Details erfahren. Unter anderem, dass mein Großvater mal einen Bruder hatte. Ich habe Fotos gesehen, die ich vorher noch nicht gesehen habe. Ich kann nicht genau sagen, warum ich sie noch nie gesehen habe, vielleicht erinnere ich mich nicht daran. Die Teilnahme am Online-Programm hat mich dazu inspiriert, nach weiteren Fakten und Familiengeschichten zu suchen und unseren Familienstammbaum zu erstellen.
Franziska Lamp fand die Oral-History-Forschung sehr faszinierend. Ihrer Meinung nach ist es absolut entscheidend, vergangene Ereignisse zu analysieren: Was bleibt in Erinnerung? Und wie bleibt es? Franziska lebt in Österreich und studiert an der Universität Wien. Sie zeichnete ein Interview mit einer entfernten Verwandten auf, die jetzt 91 Jahre alt ist.
Während des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit lebte meine Verwandte mit ihrer Familie in Niederösterreich auf dem Land. Sie erzählte mir viel über die Zeit, als die Russen in ihrer Heimatstadt waren, und sie erwähnte auch einen französischen Kriegsgefangenen [FL: einen Zwangsarbeiter], der auf ihrer Farm arbeitete. Sie erzählte mir viel darüber, wie das ländliche Leben damals aussah. Durch die Aufzeichnung des Interviews habe ich gelernt, wie wichtig es ist, der interviewten Person genug Freiraum zu geben, das heißt: sie frei über ihre Erinnerungen erzählen zu lassen, ohne dass man sie unterbricht oder zu viele Fragen stellt. Erst nachdem die Person alles erzählt hat, sollte man nachfragen, falls etwas nicht ganz klar war oder wenn man an bestimmten Themen besonders interessiert ist. Während dieses Workshops und innerhalb unserer multinationalen Mikrogruppen sprachen wir über sehr unterschiedliche Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wir hatten auch sehr interessante Diskussionen zum Thema deutsch-österreichische Schuld. Ich denke, es ist entscheidend zu analysieren, wie die Bevölkerung in Deutschland und Österreich die Kriegs- sowie die Nachkriegszeit erlebte und (!) welches Bild den Menschen in Erinnerung geblieben ist.
Pauline Reinhardt meint, es hat alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer enger zusammengebracht, Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihren Geschichten zu sehen. Pauline studiert an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie hat ein Interview mit ihrem Großonkel aufgezeichnet.
Ich habe meinen Großonkel angerufen, um über seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit zu sprechen. Er wurde 1940 geboren und wuchs in Breslau auf. Nach dem Krieg musste er mit seiner Mutter fliehen. Sie kamen nach Nordwestdeutschland und mussten dort ein neues Leben beginnen. Wir haben über seine Kindheitserinnerungen gesprochen und auch über Geschichten, die seine Mutter ihm erzählte. Mit ihm zu sprechen war eine wirklich gute Erfahrung – sowohl auf persönlicher als auch auf unpersönlicher Ebene. Danach fühlte ich mich dieser Seite meiner Familie näher. Ich denke auch, dass solche Erinnerungen wichtig sind, weil sie uns an die schwierigen Umstände erinnern, in denen heutige Flüchtlinge leben. Diese Geschichte in Gruppen zu teilen war schwierig, aber auch sehr gut.
Dr. Kinga Gaida von der Jagiellonen-Universität hat eng mit der polnischen Gruppe zusammengearbeitet. Sie räumt ein, dass die Arbeit an dem Projekt während der Pandemie eine Herausforderung war, aber das Team sowie alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben es geschafft.
Die polnischen Jugendlichen sind sehr gerne Teil des Projekts und hoffen, dass sie sich noch einmal treffen und mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine und aus Deutschland zusammenarbeiten können. Es ist schade, dass es während des Projekts keine Möglichkeit gab, sich offline zu treffen. Ich denke, Reisen (aber keine virtuellen) und gemeinsame Besuche verschiedener Orte, gemeinsame Zeit im Bus, Hotel oder während der Mahlzeiten sind der beste Weg, sich kennenzulernen und neue Beziehungen und Freundschaften aufzubauen. Während des Projekts arbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer online in gemischten internationalen Gruppen, hatten jedoch keine Gelegenheit, ihre Freizeit zusammen zu verbringen. Ich denke aber, dass die Organisatorinnen und Organisatoren ihr Bestes gegeben haben, um das Projekt so effektiv und interessant wie möglich zu gestalten. Ich hoffe wirklich, wir werden die Gelegenheit haben, noch einmal zusammenzuarbeiten, vielleicht in einer besseren Zeit ohne Pandemie.
Neben dem Präsentieren von Familiengeschichten und der Evaluation des Online-Programms bereiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen kulturellen Teil des Abends vor. Das war eine Gelegenheit, Besonderheiten und neue Fakten über die Länder zu erfahren, aus denen sie stammen. Die Jugendlichen sind jetzt gerade dabei, ihre Geschichten websitestauglich zu machen und sie zu veröffentlichen. Alle Materialien werden in die vier Projektsprachen übersetzt und sind dann online öffentlich verfügbar.
Das Projekt ist eine großartige Gelegenheit für Jugendliche aus Deutschland, Polen und der Ukraine (und sogar für einige aus Litauen und Österreich), tiefer in die Familiengeschichte einzutauchen, Beziehungen zu ihren Verwandten aufzubauen und unsichtbare Brücken zu schlagen: zwischeneinander und zwischen den Ländern, aus denen sie herkommen.