Czesława Poprawska
In dem Interview berichtet meine Tante Czesława Poprawska, geboren 1928, wohnhaft in Kościan (Woiwodschaft Großpolen, zwischen Posen und Leszno) vorwiegend über die Ereignisse in den nahegelegenen Dörfern. Meine Tante selbst hat den Krieg unweit ihres Elternhauses erlebt. Ihr Vater wurde zur Zwangsarbeit in den Westen Deutschlands deportiert, er kam nach dem Krieg zurück. Ihre Mutter und Großmutter arbeiteten bei den Deutschen, sie selbst ebenfalls, als sie alt genug war. Nach dem Krieg arbeitete sie bei einem Schneider.
[WR] Weronika Rataj, [CP] Czesława Poprawska
WR: Wie alt warst du, als der Krieg ausbrach?
CP: Ich war 11.
WR: Was fühlt so ein elfjähriges Kind, wenn so etwas passiert?
CP: Ich habe alles mitbekommen und gewusst. Als der Krieg ausbrach, war es sehr heiß [seufzt]. Wir bereiteten uns alle auf die Flucht vor den Deutschen vor, aber das hat nicht funktioniert. Wir blieben zu Hause, wir gingen nirgendwohin. Die Leute flohen mit ihren Wagen, aber das half nichts.
WR: Es war der erste September, also hast du dich wohl gerade auf die Schule vorbereitet?
CP: Das habe ich, aber es passierte nichts mehr, die Schule blieb geschlossen.
WR: Wussten alle bereits, was los war?
CP: Ja, alle wussten es schon.
WR: Was sind deine frühesten Erinnerungen aus dieser Zeit, außer dass es heiß war?
CP: Die Leute bereiteten sich vor, backten Kuchen für den Weg, aber aus unserem Dorf floh letztendlich keiner.
WR: Was war das für ein Dorf?
CP: Ich wohnte damals in Ponin. Die Deutschen marschierten, glaube ich, am 3. September ein. Zuerst beobachteten sie die Gegend nachts und dann, am Tag, zogen sie schon mit Autos und Motorrädern durch, zum Beispiel aus Richtung Leszno in Richtung Posen.
WR: Hat jemand bei euch zu Hause Wache gehalten, statt schlafen zu gehen?
CP: Nein. In der ersten Nacht haben wir sowieso nicht geschlafen, weil die Polen, als der Krieg ausgebrochen war, Heuhaufen in den Bauernhöfen in Brand gesetzt haben. Wenn jemand einen Bauernhof hatte, gab es da große Heuhaufen, und wenn zum Beispiel 2-3 Haufen in Brand gesetzt wurden, ergab das einen riesigen Lichtschein. Es war so hell wie am Tag.
WR: Und deswegen konntet ihr nicht schlafen?
CP: Deswegen konnten wir nicht schlafen. Wir haben alle beobachtet, was in dieser Nacht los war, und wie es bei Kindern halt so ist, wurden wir irgendwann müde und gingen ins Bett. Ich war die Älteste im Haus. Meine Schwester wurde 1940 geboren und mein Vater wurde 1941 nach Deutschland gebracht. Wir blieben zu viert zurück mit der Mutter und den Großeltern. Wir wohnten lange nicht in unserem Haus, weil wir auch enteignet worden sind, sie brachten uns nach Lubosz und da wurden wir aufgeteilt: Die Erwachsenen kamen zur Arbeit nach Deutschland und wir blieben in Lubosz, in einem leeren Zimmer ohne Boden, das Haus war frisch gebaut und noch nicht fertig. Die eine Familie hatte ein bereits ausgestattetes Zimmer mit Küche und das andere Zimmer war vollkommen leer. Dorthin wurden wir gebracht.
WR: Wie lange habt ihr dort gewohnt?
CP: Nicht lange, weil meine Mutter Arbeit bei einem Deutschen fand, der unsere Nachbarn enteignet hatte, und so kamen wir zurück nach Ponin. Die Deutschen waren einverstanden, dass Mutter und Oma für sie arbeiten, also kamen wir zurück, nur nicht in unser eigenes Haus, sondern in das eines Nachbarn. Dort wohnten wir bis zum Ende des Krieges.
WR: Also waren deine Mutter und Oma so eine Art Haushälterinnen, ja? Sie kümmerten sich ums Haus?
CP: Sie arbeiteten das ganze Jahr lang bei diesen Deutschen. Mein Opa nicht, aber Mutter und Oma wohl.
WR: Als die Männer zur Arbeit weggebracht wurden, wusste man da, dass sie nach Deutschland zur Arbeit fahren, oder war das geheim, wohin sie gebracht wurden?
CP: Nein, keiner wusste, wohin diese Menschen gebracht wurden.
WR: Kam dein Vater denn nach dem Krieg zurück?
CP: Er kam zurück, aber erst im Juli. Der Krieg war im Mai zu Ende und mein Vater kam wohl deswegen erst im Juli zurück, weil er weit weg war, bis in die Berge hatten sie ihn gebracht, und da hat er bei der Bahn gearbeitet.
WR: Was waren seine Erinnerungen daran?
CP: Ihm ging es nicht schlecht, weil er nicht von den Russen, sondern von den Amerikanern übernommen wurde, das war schon irgendwo im Westen. Da ging es ihm gar nicht schlecht, bei den Deutschen. Als er zurückkam, da hat er erzählt, dass ihm die Deutschen nicht geglaubt haben, als er erzählte, dass seine Familie aus einem Haus in ein anderes umgesiedelt wurde. Sie haben es nicht geglaubt, sie dachten, so was kann doch nicht passieren. Wenn man die Lager erwähnte, da wussten sie auch nicht, dass es Lager gibt.
WR: Genau das wollte ich eigentlich fragen, denn heute, wenn wir irgendwas wissen wollen, gehen wir ins Internet, schauen Nachrichten im Fernsehen usw., aber früher war ja nicht mal die Presse sonderlich weit entwickelt – wie viel wusste man damals? Wusste man, dass es Lager gibt, dass Menschen irgendwohin in Zügen deportiert werden?
CP: Wir haben während des Krieges nichts davon gewusst, dass es Lager gab. Das kam erst nach dem Krieg raus.
WR: Woher hatte man Informationen über die politische Lage, zum Beispiel von dem Kriegseintritt der USA oder Großbritanniens?
CP: Das wusste man gar nicht, denn es gab ja keine Zeitung. Wir wussten gar nichts davon.
WR: Also habt ihr im völligen Unwissen gelebt?
CP: Wir wussten nur so viel, was am Tag davor passiert war, aber dass jemand weggebracht wurde, das wussten wir nicht.
WR: All das kam erst nach dem Krieg raus?
CP: Ja.
WR: Hast du vielleicht Erinnerungen daran, was hier in Kościan und Umgebung so alles los war? Haben die Leute gekämpft?
CP: Wir wussten nur, dass es Erschießungen gab. Das wussten wir, weil ich es selbst gesehen habe, als ich bei meiner Tante in der Kosynierów-Straße war, dass Menschen auf dem Marktplatz erschossen wurden. Dann wurden die Erschossenen mit dem Wagen durch die Kosynierów-Straße zum Friedhof gefahren, angeblich war das ein jüdischer Friedhof, und dort wurden sie bestattet. Aber nach dem Krieg war das alles weg, da stehen jetzt sogar schon Häuser.
WR: Wurden sie erschossen, weil sie Juden waren?
CP: Nein, sie haben normalerweise Politiker, Lehrer oder so ausgesucht. Die Leichen lagen auf einem Pferdewagen aufgestapelt. Meine Tante wohnte im ersten Stock, also konnten wir durchs Fenster sehen, wie die Leichen da auf dem Wagen lagen.
WR: Passierte das nur einmal?
CP: Nein, mehrmals. Wenn eine Erschießung stattfinden sollte, wurden alle Ausgänge vom Marktplatz blockiert und alle Leute, die auf dem Marktplatz waren, mussten sich die Erschießung mit ansehen. Die Menschen, die da standen, mussten auch noch klatschen, weil das [die Erschossenen – Anm. d. Übers.] Verräter waren, so hieß es. Mein Vater war auch irgendwann mal bei einer Erschießung dabei. Auch auf dem Marktplatz.
WR: Hast du irgendeine positive Erinnerung aus dieser Zeit?
CP: Positiv? Als ich knapp 14 Jahre alt war, fing ich auch an, bei den Deutschen in Ponin zu arbeiten. Da war so eine Dame aus Berlin, eine Witwe, da ging es mir nicht so schlecht. Sie hatte da ganz normal Tiere und alles. Wir waren zu viert und haben da fast bis zum Kriegsende gearbeitet.
WR: Es ging dir zwar nicht schlecht, aber hast du eine bestimmte Erinnerung, die dich lächeln lässt, irgendwas Schönes?
CP: Wenn die Deutschen nicht da waren.
WR: Für mich ist jeder, der den Krieg überlebt hat, die Angreifer und die Verräter ausgenommen, aber ansonsten jeder Überlebende ein Held. Es ist mir klar, dass die einen mehr gemacht haben und die anderen weniger, aber erinnerst du dich vielleicht an irgendwas, was du gemacht hast, worauf du stolz bist?
CP: [seufzt, überlegt] In den Kriegszeiten war es nicht so, dass Leute einfach so gelächelt haben, es gab keinen Grund dazu. Jeder hatte Angst vor dem, was morgen kommt.
WR: Also wurdet ihr zuerst nach Lubosz gebracht, dann seid ihr nach Ponin zurückgekommen und habt bei den Deutschen gearbeitet und so verlief der ganze Krieg bei euch. Oder war da noch was?
CP: Mein Bruder musste auch arbeiten. Auch bei den Deutschen in Ponin. Unser jüngster Bruder war noch zu klein und unsere Schwester auch. Die blieben zu Hause.
WR: Wie sah die Arbeit aus? War sie schwer? Waren die Deutschen gut zu euch?
CP: Das kommt darauf an. Meinem Bruder ging es auch nicht schlecht. Er weidete die Kühe. Er musste alles tun, was sie verlangten, ob er es konnte, oder nicht, er musste halt alles lernen.
WR: Gab es eine Sprachbarriere? Das heißt, musstet ihr schnell Deutsch lernen, um zu verstehen, was sie sagen?
CP: Nein. Niemand hat uns dazu gezwungen.
WR: Haben sie euch dann mit Gesten gezeigt, was ihr machen sollt, oder sprachen diese Deutschen ein bisschen Polnisch?
CP: Nein. „Meine“ Deutsche konnte gar kein Polnisch. Da, wo mein Bruder gearbeitet hat, konnte auch keiner Polnisch, aber jeder wusste, was er zu tun hat, wie man Kühe weidet. Wir mussten die Tiere genauso füttern und sauber machen. Jeder wusste, was bei solchen Tieren zu tun ist.
WR: Also war es nur Arbeit mit Tieren und mehr nicht?
CP: Wir brachten auch kleine Kaninchen oder Meerschweinchen nach Posen zu Experimenten.
WR: Haben die Deutschen irgendwelche Experimente durchgeführt?
CP: Ich glaube schon, in Posen. Aber wir wussten davon nichts. Wir mussten die Tiere nur mit dem Zug hinbringen und das war‘s.
WR: Haben es die Deutschen irgendwie ausgenutzt, dass die Polen bei ihnen gearbeitet haben? Musstet ihr auch ihre Hausarbeiten erledigen oder so?
CP: Die Zimmer mussten aufgeräumt werden, alles. Das war so ein Hausdienst, jeder hatte seine Aufgaben: Der eine kochte, der andere arbeitete im Garten, und dann waren da noch die Tiere.
WR: Welchen sozialen Status hatten diese Deutschen? Gehörten sie zur Intelligenz?
CP: Das war angeblich die Witwe eines Deutschen, der im Krieg umgekommen war. Sie war schon etwas älter.
WR: Hast du von ihnen ein bisschen Deutsch gelernt?
CP: Ich habe schon fast alles vergessen. Ich konnte es ein bisschen, aber die jungen Leute haben sich nicht besonders für die Sprache interessiert.
WR: Möchtest du noch etwas hinzufügen?
CP: Jeder war froh, als der Krieg zu Ende ging. Das war wirklich eine große Freude. Alle trafen sich. Die Leute haben einander respektiert nach dem Krieg. Mehr als heutzutage. Und wir haben uns alle gefreut, wir Jugendliche. Ich war 17, als der Krieg zu Ende war.
WR: War das so, dass die Deutschen plötzlich von einem Tag auf den nächsten Polen verließen und jeder sein altes Haus wieder bekam, oder dauerte das länger?
CP: Die Deutschen flohen eines Abends. Am Morgen war ich gerade zu Hause und ein Nachbar sagte mir, ich brauche nicht zur Arbeit zu gehen, weil die Deutschen weg sind. Sie flohen alle ganz heimlich. Wir wussten nichts davon. Wir sahen nur durchs Fenster, wie eine lange Reihe von Wagen die Straße entlangfuhr.
WR: Konntet ihr dann in euer Haus zurück?
CP: Ja. Wir kamen zurück und fanden das Haus leer vor. Alles haben sie mitgenommen, weil der Deutsche, der da gewohnt hatte, in den Krieg gezogen war, seine Frau blieb da und als sie sich das Bein brach, zog sie zu ihren Schwiegereltern und verließ das Haus, also stand es leer, als wir zurückkamen, da war gar nichts.
WR: Wie sah danach die Rückkehr zur Normalität aus? Seid ihr sofort wieder zur Schule oder zur Arbeit gegangen?
CP: Es war ziemlich normal. Wir mussten den ganzen verpassten Schulstoff nachholen. Klassen wurden zusammengelegt. Ich habe kein Abitur gemacht, da ich arbeiten musste. Mein Vater kam erst im Juli zurück, meine Mutter war krank, also musste ich arbeiten gehen.
WR: Was war das für eine Arbeit?
CP: Beim Schneider.
WR: Gut, das wär‘s dann. Danke sehr!
Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.