Familiengeschichten
Elli Treptow
Interview aufgezeichnet: von Marlene Rehbein Essen, Germany 04.10.2020

Elli Treptow

Ich habe meine Großmutter am 4.10.2020 interviewt. Sie wurde 1936 in Grünberg (Zielona Góra), nahe Lodz (Polen) geboren. Lodz wurde während der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945 in „Litzmannstadt“ umbenannt. Meine Urgroßmutter, Großmutter und sechs Geschwister flohen 1945 vor der näherrückenden Roten Armee. Da die Armee sie einige Monate später eingeholt hatte, wurden sie zurück in ihre Heimat getrieben. Die dort nun herrschenden Lebensbedingungen waren sehr schlecht, weshalb sie 1946 erneut flohen. Sie wurden in Lütgenrode, in Niedersachsen angesiedelt. Einige Jahre später zogen sie nach Essen, ins Ruhrgebiet. Meine Großmutter heiratete. Sie hat fünf Kinder und acht Enkelkinder. Sie ist nun 84 Jahre alt.  Meine Großmutter und ich sprechen über ihre Flucht, Trauma, die Nachkriegszeit und über die Frage wie in ihrer Familie nach 1945 über die Kriegszeit gesprochen wurde.

Ja, ich heiße Elli Treptow, geborene Kirsch, bin am 6.3.1936 in Grünberg geboren, bei Lodz. Wir haben auf einem kleinen Dorf gewohnt und wir waren insgesamt acht Geschwister.

Und als der Krieg ausgebrochen ist, warst du erst drei, da kannst du dich ja wahrscheinlich nicht dran erinnern, aber…

Nee, da kann ich mich nicht dran erinnern.

Aber kannst du dich an die Kriegszeit erinnern?

An die Kriegszeit kann ich mich gar nicht erinnern, weil da war ich ja klein. Und wir wohnten auf einem ganz kleinen Dorf und wir wussten eigentlich wenig, außer dass wir unser Leben gelebt haben. Wir besuchten die Schule und waren ständig draußen und mit meiner Mutter überwiegend zusammen. Und da haben wir so gar nichts weiter mitbekommen, weil wir noch nicht mal, wir hatten noch nicht mal ein Radio oder was. Also von daher weiß ich vom Krieg, sozusagen als der war, überhaupt nix. Das war ja erst später, als der Krieg dann da war. Als der zu Ende ging.

Wie weit war Lodz entfernt?

12, 13 Kilometer, nicht so weit. Aber da sind wir gar nicht hingekommen. Ein einziges Mal war ich da, als Hitler schon da war. Da war ich da mal, wir sollten da hinfahren, weil Hitler kam, mit der Schulklasse, mit der Schulklasse. Da durfte ich dem Hitler einen Blumenstrauß überreichen.

Tatsächlich?

Das durfte ich, ja.

Wie war das für dich? Wusstest du vorher so genau, wer der ist oder hattest du irgendwelche Assoziationen mit ihm?

Nein, gar nicht. Meine Eltern haben da gar nicht drüber gesprochen. Mein Vater wurde ja auch eingezogen, obwohl er kinderreich war. Wurde er auch eingezogen. Der hat da nie drüber gesprochen, der hatte jetzt keine bestimmte Funktion. Das kann ich dir gar nicht sagen. Der war halt Soldat, hat er immer gesagt.

Aber er war nicht im Kampfgeschehen irgendwie aktiv?

Er hat also keinen erschossen oder sowas. Das hat er nicht. Aber mein Vater war auch damals schon in der Partei [in der NSDAP]. Er war kein Nazi, aber der war in der Partei, war der auch. Aber der hat niemals jemand erschossen. Das hat er uns immer wieder auch gesagt. Wir haben ihn oft danach gefragt, ne. Und Willi, mein Bruder, unser Bruder Willi, der war bei den Pimpfen [im Alter von zehn bis 14 Jahren waren viele Jungs im deutschen „Jungvolk“ organisiert und hießen „Pimpfe“], hießen die damals, da war der auch drin. Das war natürlich schön, war ja wie die Pfadfinder, die waren ja immer unterwegs.

Das ist noch eine Stufe unter Hitlerjugend, richtig?

Genau, ganz genau. Da war der drin. Und meine älteste Schwester war bei dem BDM [Bund deutscher Mädel]. Das waren die Mädchen, ne, die größeren Mädchen. Und ja, das fand der [Willi] schön. Das war halt damals so, da musste man ja wenig davon. Man wusste ja nicht viel.

Wann wurde der Krieg auch für dich präsent?

Erst richtig 1945, als es richtig los ging damit, da ging er ja dann zu Ende. Und das wir dann raus mussten. Da war ja ganz, ganz schlimmer Bombenalarm überall. Leider. Das hörte man ja überall. Und dann kriegten wir Bescheid. Dass wir in ganz kurzer Zeit unsere Klamotten, das Nötigste zusammen suchen müssten. Aber nicht zu viel. Wir durften nicht so viel mitnehmen, damit, weil wir ja im Treck geflüchtet sind, damit wir nicht so viel Gepäck aufm Wagen hatten, weil ja so viele Familien mit mussten. Der Treck war dann ganz, ganz lang. Ja, und dann kamen wir auf auf die Wagen und dann ging der Treck los – ins Ungewisse. Keiner wusste ja, was da ist. Und wenn man nicht mit wollte, das gab es gar nicht. Die haben uns einfach gesagt, wir müssen raus und wir sind dann auch raus. Und dann hieß es ja ne, jetzt fahren wir mal zum Westen. Mal gucken, was kommt. Wusste kein Mensch, was da kommt. Uns haben sie nur gesagt: „Die Russen kommen, wir müssen weg. Die sind nicht mehr weit.“ Und dann mussten wir halt los, ne.

Da warst du dann also neun?

Da war ich neun. Also ich wurde im März ja neun und im Januar ging das ja los mit dem Treck. Und mein Vater, der wollte eigentlich mit uns fliehen. Der hat immer gesagt, also der hatte uns vorher schon ein bisschen…Der hat aber wenig erzählt, aber der hat gesagt – als er das letzte Mal bei uns im Urlaub, der kam immer mal zwei, drei Tage – dann hat er gesagt: „Wenn es Krieg geben sollte, dann müsst ihr auf mich warten. Ich hole euch ab.“ Und wir konnten aber nicht mehr auf ihn warten, weil wir gar nicht durften. Und er hat uns dann aber gesucht. Überall gesucht, stundenlang und hat uns nicht gefunden. Ja, und dann sind wir eben ohne Vater los. Und dann ist meine Mutter, mit sieben Kindern, ne, sind wir dann auf ’nen Pferdewagen gekommen, mit anderen Familien und sind dann losgefahren. Wir sind halt immer, wir sind immer, nicht so Landstraße, sondern richtig so Hauptstraßen gefahren. Und als das dann richtig losging mit Bombenalarm und alles da.. Das war ganz, ganz schlimm alles. Da fielen ja immer nur Bomben, auch Tiefflieger und alles, ne. Und wir sind halt immer so gut es ging immer weiter gefahren. Und wir mussten auch ganz oft, wenn manche Leute hatten auch zu viel Sachen mitgenommen, die mussten sie dann alle wegwerfen, unterwegs einfach rauswerfen, weil die Wagen.. zwischendurch ging auch schon mal ein Wagen kaputt und dann mussten wir dann halten und über Nacht irgendwo sehen, dass wir unterkamen. Manche Häuser waren ja, die Häuser waren ja zum Teil leer schon, weil die Leute weg waren. Abends sind wir immer in leere Häuser gegangen, da waren ja meist die Fensterscheiben schon längst kaputt und da war es auch kalt drinnen. Da war ja nichts mehr. Ein paar Möbel standen ja manchmal noch drin, aber es war ja sehr kalt. Wenn wir Glück hatten, fanden wir noch ne alte Matratze oder ein bisschen Stroh und dann sind wir ja dann morgens wieder hungrig… und hungrig waren wir ja immer. Und kalt… es war kalt, und ja, Hunger und Frost, weitergelaufen, so wie wir waren.

Ja, ja, was ich noch gar nicht erzählt hatte, als wir auf der Flucht waren, da in diesem Lager, da sind die Russen immer gekommen und haben die Mädchen rausgeholt, immer gegen Mittag, und wir wussten ja nicht wofür. Aber die Mädchen mussten…die Mädchen mussten mit den Russen mit. Und unsere Hedi [ihre älteste Schwester] war ja auch in dem Alter. Und wir wussten immer, wann die ungefähr kommen. Und dann hat meine Mutter gesagt: „Die Hedi legen wir an die Wand. Und dann hatten wir noch so ein altes, zerrissenes Nachthemd, wo Mama die Soldaten mit verbunden hatten. Meine Mutter hatte da mal so verwundete Soldaten mit verbunden, mit so einem alten Nachthemd. Das haben wir dann auf die Hedi gelegt und wir haben uns alle auf die draufgesetzt, immer, bis die weg waren. Dadurch ist unsere Hedi verschont geworden, weil die haben immer nur so mit’m Finger so: „Komm mit“. Dann mussten die Mädchen mit, ne. Aber damals wusste noch, ich wusste noch nicht, warum sie mit musste. Wir waren nicht so aufgeklärt wie heute.

Bald darauf endete die Flucht in Richtung Westen vorläufig. Die russische Armee hatte sie eingeholt und die Familie wurde wieder in Richtung Osten getrieben. Zurück im Dorf war ihr altes Haus neu bewohnt. Der Vater war in Kriegsgefangenschaft und die Familie lebte in schlechten Verhältnissen.

Naja, und dann nach einem halben Jahr ungefähr, war nicht ganz ein halbes Jahr, kriegten wir auf einmal einen Brief. Meine Mutter war ja im Wald arbeiten bei den Holzfällern und da hab ich den Brief angenommen und hab dann gesehen, dass der von unserem Vater war, von der Gefangenschaft, vom Krieg. Und da habe ich mich natürlich riesig gefreut, da habe ich den Brief genommen und bin in den Wald gerannt wie so eine Irre und hab‘ die Mutter gesucht. Das war aber nicht so sehr schwer, obwohl wir ja große, tiefe Wälder hatten, wie gesagt, aber man hörte die Holzfäller ja, ist ja klar. Und dann hab ich gesagt: “ Ich hab einen Brief vom Papa. Und meine Mutter, die fing dann direkt an zu weinen und so. Und da wussten wir, dass der Papa lebt, ne.

Mein Urgroßvater lebte, war aber noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Die Familie entschloss sich dennoch, eine zweite Flucht zu wagen.

Aber weil es uns so schlecht ging, wollten wir da nicht bleiben. Wir wollten unter deutschen Menschen sein. Und dann hat meine Mutter gesagt: „Wir flüchten jetzt nochmal. Und dann sind wir…

Das war aber immer noch ’45 oder schon ’46?

Nein, das war ’46 dann, ne. Ein Jahr später, ’46, war das im Herbst.

Zunächst führte der Weg mit dem Zug nach Breslau.

Also dann, die [ihre Mutter] hat immer gesagt, die hat das so oft gesagt, dass das bei uns drin saß… Wir müssen nach Breslau mitm’m Zug und im Zug dürfen keine deutschen fahren, nur Polen. Und dann hat sie gesagt, wir dürften nicht sprechen, bis wir da sind nicht. Weil wenn die merken, dass wir Deutsche sind, kommen wir in den Zug nicht rein. Die Züge waren nämlich immer damals überfüllt. Es waren ja so alte Personenzüge, klar, und da standen sie sogar oft auf den Trittbrettern draußen. Das war immer alles überfüllt. Und wir dürften noch nicht mal „Mama“ sagen. Und obwohl wir noch, wirklich ja auch ziemlich klein waren, haben wir uns auch daran gehalten, wir haben nicht gesprochen. Und in Breslau waren ganz viele Flüchtlingslager. Da waren ja, ach, ich weiß nicht, Hunderte sowieso, wenn nicht Tausende Flüchtlinge, die da überall untergebracht waren in den Flüchtlingslagern. Ja, dann waren wir da auch wieder im Lager und wussten auch nicht, wann unser Transport weg in Westen geht. Von da aus sind die Flüchtlinge in den Westen gekommen. Die wurden ja im Westen verteilt. Und dann hieß es mal, ach, mal hieß es 14 Tage, mal hieß es drei Wochen, mal hieß es vier Wochen, das war ganz unterschiedlich, ne. Ja, und Mutter, die ist dann ganz oft gegangen und hat gesagt, sie sollten uns doch endlich rausfahren lassen und so weiter. Die hat immer gebettelt, das wir bald wegkamen, weil wir hatten ja da auch nichts zu essen, da gabs ja auch nix, kriegten wir auch nur immer mal einmal am Tag ein bisschen was. Und da sind wir immer in den Trümmern, da war ja auch alles kaputt, alles zerbombt, ne? Und dann in den Trümmern immer rumgelaufen und haben was zu essen gesucht. Wir haben ja sogar aus den Aschentonnen, Aschentonnen ist zu viel gesagt. Wenn irgendwo was rumlag – selbst wenn das schmutzig war – haben wir das gegessen. Und dann, etwa vier Wochen hat es dann gedauert, bis wir dann raus durften aus Breslau. Und dann kamen wir in so einen Viehtransport. Der war dann auch wieder voller Flüchtlinge, ne. Und das hat natürlich auch sehr lange gedauert. Ich glaub‘, zwei Tage sind wir da gefahren. Und dann sind wir in Niedersachsen gelandet. Dann hat man uns in so ein kleines Dorf gebracht, Lütgenrode, bei Nörten-Hardenberg. Da war nur so etwas über 100 Einwohner, war so ein ganz kleines Dorf. Ja, das war jetzt, das sollte jetzt unsere zweite Heimat werden.

Hat dein Vater je etwas von der russischen Kriegsgefangenschaft erzählt?

Nee, nichts, gar nichts hat der erzählt. Der hat nur einmal gesagt, er hätte die Knarre auch an der Stirn gehabt, aber wir hätten viel mehr erlebt, als er hätte. Er hat es nicht ganz so schlecht gehabt, weil mein Vater konnte Russisch. Und ja, mein Vater war so ein bisschen kommunistisch angehaucht auch, ne. Und der konnte russisch und der hat ’ne ganze Zeit als Dolmetscher bei Russen gearbeitet und die waren gar nicht so schlecht zu ihm. Ja, und trotzdem, er hat aber auch so keinen erschossen oder so. Das hat er alles nicht. Jedenfalls dadurch, dass er bei den Russen gearbeitet hatte, hat er ja auch wie gesagt… Der war aber sehr abgemagert, der sah ganz furchtbar aus, auch viel gehungert und alles, ne.

Habt ihr nach ’45 über den Krieg und auch über den Holocaust gesprochen?

Meine Eltern haben vom Krieg nichts erzählt, gar nichts, fast gar nichts. Da mussten wir meine Mutter schon fragen und ich hatte, als ich 13 Jahre alt war, hatte ich in eine Fluchtbericht geschrieben, was ich noch wusste und so mit meinen Worten, wie man damals – wir hatten ja zwei Schuljahre gar nicht und so – also mit meinen Worten hab‘ ich da einen Fluchtbericht geschrieben. Wir wussten nur, was wir mitgemacht hatten und so von den Menschen. Aber wir wussten z.B. nichts vom Holocaust , von den Juden, da wussten wir Kinder überhaupt gar nichts, weil wir auf so einem kleinen Dorf wohnten. Wie gesagt, wir kamen ja gar nicht weg.

Habt ihr auch unterwegs auf der Flucht nichts davon gehört?

Nein, auf der Flucht hat überhaupt keiner was.. da hat man gar nichts gehört. Also für uns war das wirklich Neuland. Bis wir hier erst mal richtig sesshaft wurden und das dann durch Fernsehen und durch Medien, Radio und auch vom Erzählen dann, dass das dann langsam, dass wir das langsam kapiert haben. Und in unserer Familie ist da nie drüber gesprochen worden. Selbst mein Vater, der hat nix erzählt, gar nichts, ne. Und alles das, das war ja mit den Juden, das wussten wir nicht. Obwohl in unserer Stadt [Lodz], die gar nicht weit weg war, da war auch ein Ghetto, da wussten wir auch nichts von, obwohl wir da nicht weit weg gewohnt haben.

Wie gehst du mit dem Trauma um, das du durch deine Flucht erleiden musstest?

Ich bin immer, ja, ich hab‘, also ich kann damit gut umgehen, weil ich immer sage: „Der liebe Gott hat mir starke Nerven gegeben.“ Ich habe wirklich sehr starke Nerven. Ja, da hat mein Glaube auch viel mit zu tun. Ich bin ja ein gläubiger Mensch und für mich ist das auch wichtig. Meine Nerven sind gut, alles andere nicht so, aber die Nerven, die sind stark. Aber ich denke, das Leben ist das, was mich geprägt hat, ne.

The last page of the flight-report my grandmother wrote 4 years after their flightChristmas 1944, a few months before the flight. My grandmother is the girl to the right

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