Familiengeschichten
Genowefa Ruman
Interview aufgezeichnet: von Gabriela Kołodziej Krynica-Zdrój, Poland 20.11.2020

Genowefa Ruman

Genowefa Ruman ist 1949 in Jastrzębik geboren. Sie hatte acht Geschwister. Ihre Eltern haben hart gearbeitet, um die Familie ernähren zu können. Nach dem Krieg sind sie mit den Kindern von Zagorzyn nach Jastrzębik gezogen. Es war immer noch schwer, aber sie hielten zusammen. Die Kinder spielten mit den Nachbarskindern zusammen, sie teilten Essen miteinander und unterstützten einander. Trotz der schwierigen Zeiten hat Genowefa schöne Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Als Teenagerin zog sie nach Krynica-Zdrój, wo sie im Haus ihrer Tante lebte. Dort besuchte sie eine Gastronomieschule und fand anschließend Arbeit. Sie heiratete dort, gründete eine Familie und lebt bis heute in Krynica-Zdrój.

[PG] Frau Genowefa, [G] Gabriela (ich)

 

FG: Als die Deutschen hier stationiert waren, da war sie [die Nachbarin – Anm. d. Aut.] ihre Schneiderin, sie nähte für sie, da hatte sie alles, was sie für ihre Kinder brauchte. Aber von den Russen in der Fußgängerzone [zentral gelegener Spazierweg in Krynica-Zdrój, an dem sich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten befinden – Anm. d. Aut.], da habe ich nichts davon gehört.

 

Gabi, was soll ich dir denn erzählen?

 

G: Woran erinnern Sie sich, wenn es um die Kriegszeit und die Nachkriegszeit geht?

 

FG: Die Kriegszeit kenne ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter, weil ich erst nach dem Krieg geboren bin.

 

Während des Krieges, 1939, als der Krieg losging, haben sie [Genowefas Familie – Anm. d. Aut.] in Zagorzyn gewohnt. Da waren schon meine zwei Brüder im Haus und 1943 ist der dritte Bruder geboren, dann 1944 die Schwester und 1947 die nächsten Brüder, da waren sie schon zu fünft. Ich erinnere mich, im Krieg, als die Kinder noch klein waren, haben sie meinen Papa ins Lager [Zwangsarbeitslager – Anm. d. Aut.] nach Nowy Sącz gebracht. Mein ältester Bruder war damals drei Jahre alt. Schrecklich. Ich erinnere mich, dass Mama mir erzählt hat, dass er hinter den Deutschen hergelaufen ist und sie angefleht hat, den Papa gehen zu lassen. Ich kann darüber gar nicht reden, sonst muss ich gleich weinen… Er nahm einen Haferkuchen aus dem Ofen und lief damit los und schrie: „Hier, Papa, für dich!“ und „Nimmt meinen Papa nicht mit!“ Und dann trat einer der Deutschen einen Schritt zurück von den Bauern aus Zagorzyn und sagte zu ihm – auf Polnisch hat er das gesagt – dass sein Papa wiederkommt. Er erinnert sich bis heute daran! Und der Papa kam tatsächlich zurück, drei Tage später ließen sie ihn laufen. Die anderen wurden alle abtransportiert und keiner kehrte je ins Dorf zurück. Irgendwie muss dieser Deutsche… Der hat sich wohl ein Herz gefasst und das war seine Rettung.

 

Und dann haben sie bis 1949 dort in Zagorzyn gewohnt. Soll ich dir von der Bombardierung erzählen, wie sie die Brücke gesprengt haben?

 

G: Ja, ja, bitte!

 

FG: Naja, der Papa ist immer irgendwo hingegangen, um Geld für Essen für die Kinder zu verdienen. Und die Mama floh. Als sie die Brücke bombardiert haben und die Deutschen ausgerückt sind, floh sie in den Wald, in so eine Art Bunker. Meine Schwester war damals drei Monate alt. Die saßen dann ein paar Tage lang dort. Als sie dann nach Hause kamen, nachdem es vorbei war, diese deutsche Razzia auf Zagorzyn… Sie hatten drei Kühe gehabt, nur eine war noch da. Meine Mutter ging los, um die Kuh zu melken, damit sie meiner Schwester ein bisschen Milch geben konnte, weil sie nur Sauerkrautsaft bekommen hatte. Dann nahmen die Deutschen sogar diese eine letzte Kuh weg. Aber später, nach dem Krieg, 1949, da hatten sie es schon zu etwas gebracht, da hatten sie eine Kuh, ein Pferd. Sie wohnten in einem Haus mit drei Stuben. Dort wohnten drei Familien mit Kindern, das waren Mamas Geschwister. Mama war damals mit mir schwanger, das war April 1949, da setzten sie die Kinder auf den Wagen, alle fünf, und dann kamen Mama und Papa dazu. DIe Kuh banden sie hinten an den Wagen dran und mit diesem Wagen fuhren wir dann von Łąck nach Jastrzębik. Da gab es leerstehende Häuser, nach der Aussiedlung, davor hatten hier Walachen gewohnt, Lemken waren das, Russinen. Die wurden ausgesiedelt. Nur vier Familien blieben in Jastrzębik, und die Häuser, die übrig geblieben waren, waren furchtbar, klitzeklein, verlaust… Es gab eine Stube über dem Keller, eine Küche, einen Vorbau und eine kalte Stube [ein Wohnraum ohne Ofen – Anm. d. Übers.]. Und wir haben alle in dieser Stube und in der Küche gewohnt. Die Küche war recht groß. Ich bin im Mai geboren. Dann begann das mit der Genossenschaft, aber wann das war, weiß ich nicht.

 

Als die Genossenschaften kamen, hatte mein Papa irgendeine Funktion im Vorstand und meine Mama ging zusammen mit meinem ältesten Bruder Kühe melken. Mein ältester Bruder weidete die Kühe, wir die Schafe, ich war damals vier oder fünf Jahre alt. Da waren wir ganz schön fleißig.

 

G: Schon als so kleine Kinder?

 

FG: Ja, schon als so kleine Kinder. Wir gingen los, damit… Das war ja so, je mehr man für die Genossenschaft tat, desto mehr Tageslöhne gab es. Dann bekamen wir unsere Zuteilung. Das, was wir bekamen, waren Kartoffeln, Getreide, und immer noch viel mehr. Dann haben wir den Nachbarn ausgeholfen, die Kinder hatten. Wenn Mama Brot gebacken hatte, brachten wir es ihnen. Und dann später, als die Grundschule in Jastrzębik gegründet wurde, ging meine Mama, die ja schon acht Kinder hatte, als wäre die Arbeit bei der Genossenschaft nicht genug, da ging sie noch in die Schule, um da als Hausmeisterin zu arbeiten. Sie bekam 150 Zloty Lohn dort, das weiß ich noch, es war sehr schwer. Wir Kinder blieben allein, bespaßten uns selbst. Mama hatte keine Zeit, sie arbeitete von frühmorgens bis spätabends. Und im Dorf, da hat man gemunkelt, dass es spukt… Soll ich dir das erzählen?

 

G: Ja, bitte.

 

FG: Das sieht man heutzutage nicht mehr, aber solche Geschichten stehen sogar in dem Buch über Muszyna [bekannter Kurort unweit von Krynica – Anm. d. Übers.]. Da lief ein kopfloses Pferd herum und bog immer zum Friedhof ab. Die Leute beteten und überhaupt, weil dort sehr viele Menschen von den Bandera-Banden [Stepan Bandera, nationalistischer ukrainischer Partisanenführer – Anm. d. Übers.] ermordet worden waren. Das war aber nur nachts. Und frühmorgens spukte es da so.

 

G: Und erinnern Sie sich an irgendwas bezüglich der Deutschen oder der Russen?

 

FG: Die Deutschen, in Jastrzębik… Da war nach dem Krieg nichts mehr. Nur die Lemken kamen zurück und drohten, uns abzuschlachten und wieder in ihre Häuser zu ziehen.

 

G: Wer hat Ihnen das alles erzählt?

 

FG: Meine Mama… Als wir uns abends zusammensetzten, hat Mama uns ganz viel erzählt. Ich weiß vielleicht nicht mehr alles, da ich nicht mehr die Jüngste bin. Aber sie hat uns so viele verschiedene Sachen erzählt… Und Brot mit Wasser und Zucker war eine größere Delikatesse als Schinken und Garnelen, schmeckte besser als alles andere! Meine Mutter backte Brot. Wir lebten immer in Armut, wir Kinder hatten keine eigenen Schuhe, mussten sie abwechselnd tragen. Aber wir lebten miteinander so friedlich! Meine ersten Schuhe waren grüne Halbschuhe, mit Lochmuster, wunderschön. Ich sehe sie immer noch vor mir. Ich habe sie bekommen, als ich fünf war, von meinem Patenonkel, der war Küster. Wenn er mit dem Pfarrer vor Weihnachten die Gemeindemitglieder besuchte, gab er mir danach immer ein bisschen Kleingeld. Ich bewahrte es viele, viele Jahre lang auf. In so einer Nudelschachtel. Unsere Mama nähte uns Stoffpuppen. Meine Eltern waren sehr gut zu uns. Wir waren immer sauber und ordentlich gekleidet. Meine Mama machte einfach alles, woher nahm sie bloß die Kraft?! Und die Nachbarn hatten auch so viele Kinder. Hier neun, da zehn, ein Haus weiter wieder neun. Es gab so viele Kinder, dass wir hier in der Nachbarschaft einander alle liebten wie Geschwister. Es war schwer, aber irgendwie haben wir es überstanden.

 

G: Was sind allgemein Ihre schönsten Kindheitserinnerungen?

 

FG: Am meisten weiß ich noch aus Jastrzębik, als wir noch Kinder waren, wie der Nikolaus kam. Niemand wollte schlafen gehen, wir lagen alle auf der Lauer und schauten, wer uns die Geschenke bringt. Wir waren zwar arm, aber wir bekamen immer was. Es gab so Nikolausfiguren aus Zucker, auf einem Motorrad. Dazu eine Mandarine, Bonbons und Mama verteilte das alles aus ihrer Schürze. Wir haben es zwar gesehen, haben aber trotzdem geglaubt, dass es vom Nikolaus kam. Das weiß ich noch, es war so lieb, dass wir immer etwas bekamen. Oder wenn sie den Lohn aus der Schule abgeholt haben, dann kaufte Papa zum Beispiel ein Kilo Erdbeeren und jeder von uns bekam eine Erdbeere. War das eine Delikatesse! Und sobald Papa Zeit hatte, spielte er mit uns, ganz viel. Er nahm uns mit in den Wald, zeigte uns Sachen, brachte uns viel bei, weil er ein Alleskönner war. Warte, welche schönen Erinnerungen kann ich dir noch erzählen… Heiligabend war immer sehr nett. Wir saßen alle am Tisch und aßen aus einer Schüssel. Was noch? Am schlimmsten haben wir Papas erste Krankheit erlebt.

 

G: Das wollte ich auch gerade fragen, nach den schlimmsten Erinnerungen. Was war am traurigsten?

 

FG: Als mein Papa krank wurde, weil ihn ein Pferd getreten hatte. Der Arzt sagte, es gibt keine Hoffnung mehr, dass wir uns auf seinen Tod vorbereiten sollen. Aber ich hatte einen Traum, in dem er überlebte. Es war ein schöner Traum, ich erinnere mich bis heute daran. Die Behandlung dauerte lange, aber Papa wurde wieder gesund. Wir haben so sehr gebetet, und uns so sehr gefreut! Das war schon nach dem Krieg. Und was ich noch von Mamas Erzählungen vom Krieg weiß, ist, dass mein Onkel ums Leben kam, als die Deutschen hier bombardiert haben. Er war Mamas Bruder. Sie haben ihn damals mit meinem Papa zusammen mitgenommen, aber mein Papa kam ja zurück, wie gesagt – dieser Deutsche hatte ihn gehen lassen.

 

G: War denn jemand aus Ihrer Familie im Krieg?

 

FG: Nein, im Krieg nicht. Nur die Tante, bei der ich gewohnt hatte, und der Onkel [ihr Ehemann – Anm. d. Aut.] waren zur Zwangsarbeit in Deutschland gewesen. Beim Bauern. Ich weiß nicht, ob man das so sagt. Aber sie waren da fünf Jahre lang. Sie hatten es gut dort. Naja, aber hier in Krynica…

 

G: Haben Sie das nachher auch Ihren Kindern erzählt?

 

FG: Ja, sie wissen alles. Meine Mama hat es mir erzählt und ich ihnen. Sogar mehr als das, was ich dir heute erzähle. Weißt du, das kann man nicht so auf die Schnelle erzählen. Ich habe ihnen ganz verschiedene Sachen erzählt, nach und nach…

 

G: Und hörten Ihre Kinder gerne zu, interessierte sie das?

 

FG: Ja, sehr.

 

G: Haben Sie Fotos aus der damaligen Zeit? Ist irgendwas erhalten geblieben, irgendwelche Gegenstände vielleicht?

 

FG: Es gibt Fotos, aber ich habe keine. Meine Tochter, die jetzt in Sącz wohnt, hat diese Fotos. Stimmt! Da war einer im Krieg, aber das war mein Schwiegervater. Er war lange dort, aber er kam zurück. Sie haben hier gewohnt, in Słotwin.

 

Und in Krynica gab es immer viele Juden, sie hatten hier Hotels, Geschäfte. Meine Schwiegermutter arbeitete bei ihnen. Und mein Schwiegervater, der Vater von meinem Mann, arbeitete auch bei einem Juden, er transportierte Bier von Grybów nach Krynica mit einem Pferdewagen. In seine Pension oder auch Gaststätte. Sie hatten eine Wohnung und bekamen Verpflegung.

 

Die Juden waren sehr reich, sie verliehen Kredite. Ach ja! In diesem Haus [Frau Genowefas Haus – Anm. d. Aut.] lebte auch Nikifor*, aber nur eine Woche lang. Hast du mal von Nikifor gehört? In diesem Haus! Ich habe sogar Fotos von ihm, schau mal!

 

* Nikifor Krynicki – bürgerlich Epifaniusz Dworniak.
Ein Maler lemkischer Herkunft, Vertreter des Primitivismus. Er verbrachte den Großteil seines Lebens in Krynica-Zdrój. Er wurde 1930 von dem ukrainischen Maler Roman Turyn entdeckt. Es wird behauptet, er wäre behindert gewesen, er tat sich schwer mit dem Sprechen. Er war nie zur Schule gegangen, hatte keinerlei Bildung. Im Rahmen der Aktion „Wisła” 1947 wurde er dreimal ausgesiedelt, doch er kam jedes Mal wieder zurück in die Stadt. Schlussendlich erlaubte man ihm, zu bleiben, und die städtischen Behörden stellten ihm einen fiktiven Ausweis auf den Namen Nikifor Krynicki aus. Heutzutage befinden sich in Krynica-Zdrój ein Nikifor-Museum mit Kunstgalerie sowie sein Denkmal. Ein weiteres Denkmal von Nikifor steht in Lviv.
 
 

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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