
Gert Malerius
Gert Malerius wuchs in Pillau, einer Stadt in Ostpreußen auf. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges musste er mit seiner Mutter und Brüdern fliehen. Er erzählt über die Flucht und die Verhältnisse, in denen sie danach leben mussten.
„Nachdem ich mit meinen jüngeren Brüdern eine relativ unbeschwerte Kindheit in Königsberg und Pillau verbracht hatte, traten wir die Flucht vor den heranrückenden Russen an. Wir flohen mit unserer Mutter von Pillau [heute Baltiysk, Russische Föderation] nach Gotenhafen [heute Gdynia, Polen] und von dort mit dem Minensuchboot eines Kollegen meines Vaters (das Boot meines Vaters lag zur Reparatur in der Werft). Bei der gefährlichen Fahrt über die Ostsee mit Fliegerangriffen „feierte“ ich meinen achten Geburtstag, ohne Kerzenschein, Kuchen und Geschenke. Im Februar 1945 landeten wir in Kiel und wurden von dort über den NOK [Nord-Ostsee Kanal] mit anderen Flüchtlingen nach Brunsbüttelkoog gebracht. Dort wurden wir bei einem Bauern einquartiert und erfuhren sogleich die Widerstände der Einheimischen. Wir logierten im Kuhstall auf Stroh, und der Mutter, die schwanger war, wurde klargemacht, dass die Geburt nicht auf dem Bauernhof stattfinden sollte
Wir suchten uns eine andere Unterkunft und landeten nach verschiedenen Zwischenmieten in einer Behelfswohnung , einem alten Stallgebäude am Fleet in der Deichstraße in Brunsbüttel/Ort. Alle waren sehr traurig und meine Mutter oft verzweifelt, denn niemand wollte eine Frau mit drei Kindern beherbergen. Im März erhielten wir die Nachricht vom Tode unseres Vaters, der in Gotenhafen beim Verlassen seines Schiffes durch eine Granate getötet wurde. So stand die Mutter mit vier Kindern – das jüngste wurde im September geboren – alleine da.
In unserer „Wohnung“ hatten wir im Freien ein Plumps-Klo und bekamen öfter Besuch von Ratten aus dem Fleet. In der „Küche“ wurde aus Zuckerrüben Sirup hergestellt, und die nötigsten Nahrungsmittel erhielten wir durch Care-Pakete aus Amerika oder durch Anschreiben im nahen Lebensmittelladen.
Im Laufe des Jahres bezogen wir das Vorderhaus mit drei kleinen Zimmern – natürlich ohne Bad und mit dem besagten Plumps-Klo – sie wurden durch einen Ofen geheizt. Das Schlafzimmer mit meinem Bruder war nicht beheizbar und deshalb im Winter eiskalt. Im Sommer war es attraktiv wegen der brütenden Schwalben auf dem Gardinenbrett.
Das Zusammenleben auf engem Raum war bedrückend, zumal die Schulaufgaben erledigt werden mussten. Das Geld war knapp, die Kleidung unmodern. Rüben verziehen und Kohl pflanzen beim nahen Bauern halfen uns finanziell etwas weiter. Dazu kam das Sammeln von Ähren auf abgeernteten Feldern, woraus dann Mehl in der Mühle gemahlen wurde. Außerdem ernteten wir einiges Gemüse und Kartoffeln aus unserem Schrebergarten.
Trotz aller dieser Einschränkungen verlebten wir draußen viele Abenteuer mit anderen Jugendlichen, bei denen Ressentiments gegen Flüchtlinge nicht bestanden. Allerdings verbot eine Familie dumm-arrogant ihren eigenen Kindern, mit den Flüchtlingskindern zu spielen.
Nach all den Widrigkeiten haben wir alle unseren beruflichen Weg gefunden, und die Mutter verwirklichte ihren geheimen Traum. den Bau eines bescheidenen Hauses in der Nähe unser bisherigen Wohnung.“


Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.