Familiengeschichten
Halyna Serhijenko
Interview aufgezeichnet: von Mark Borodai Mariupol, obwód doniecki, Ukraina 18.10.2020

Halyna Serhijenko

Halyna Serhijenko wurde 1946 in der ukrainischen Stadt Mariupol in der Oblast Donezk geboren. Ihre Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg basieren auf den Erzählungen ihrer Eltern und Bekannten.

Halyna Serhijenko, Lehrerin (Werken)

 

Wo sind Sie geboren?

 

In Mariupol.

 

In welchem Jahr wurden Sie geboren?

 

1946. Meine Eltern kamen unmittelbar nach dem Rückzug der Deutschen nach Mariupol. Mein Vater wurde nach Mariupol kommandiert, um beim Wiederaufbau der dortigen Metallurgiefabriken zu helfen, weil er Metallurgieingenieur war. Ich weiß noch, sie sagten, dass es sehr schwierig war, eine Wohnung zu finden, denn die Stadt war niedergebrannt.

Aber meine Bekannten, die während der Besatzung hier waren, erzählten mir, wie es war. Naja, jeder hatte seine eigene Meinung dazu. So meinte die Mutter meiner Schulfreundin, dass es gut war, als die Deutschen hier waren, denn es gab Ordnung, die Türen musste man offen lassen, weil die Deutschen jederzeit vorbeischauen und prüfen konnten, was man da so machte.

 

Dagegen erzählte meine Kollegin vom Metallurgischen Kombinat Asow-Stahl, die dort in der Nähe wohnt, schreckliche Geschichten. Das Kombinat befand sich am rechten Ufer, genauso wie das Militärkrankenhaus. Da wollten die Deutschen nicht hin, sie hatten Angst, und wenn sie schon ab und zu mal unbedingt hin mussten, dann waren sie absolut grausam und sehr gewalttätig. Wenn es eine Flucht gab oder auch sonst noch was, kamen sie, dann wurden alle Menschen auf die Straße getrieben und aufgereiht. Und falls etwas Ernstes passiert war, wurde jeder zweite erschossen, denn die Deutschen meinten, dass die Menschen Auskunft liefern sollten: über Nachbarn, Freunde, Kollegen… Über alles eben, was sich in der Gegend so ereignete.

 

Und so schilderte sie auch einen nicht gerade schönen Fall, als zwei Soldaten der Roten Armee verwundet wurden. Sie wurden ins Militärkrankenhaus gebracht, aber man musste sie irgendwo verstecken. Und ein Chirurg, der in diesem Krankenhaus arbeitete, kannte eine Familie, die gerade ein Plumpsklo bauen wollte. Eine Senkgrube hatten sie bereits ausgegraben – aber noch nicht benutzt. Und dort wurden die zwei verletzten Soldaten versteckt. Der Chirurg musste sie davor aber noch aus dem Krankenhaus schmuggeln. Dafür band er ein paar Bettlaken zusammen, die dann als Seil dienten, um die zwei Soldaten aus dem Fenster des ersten Stocks nach draußen zu schmuggeln. Danach kam der Chirurg zu ihnen und behandelte sie gleich in der Senkgrube. Aber helfen taten eben nur er und diese Familie. Und als unsere Rote Armee kam und die Stadt befreite, da schwor nun das ganze Krankenhaus, sie hätten den beiden Soldaten alle zusammen geholfen. Und die Frau mit der Senkgrube war damals schwanger. Und wenn die Nazis kamen, tat sie immer so, als wäre ihr ganz übel, und rannte schnell zum Klo, damit sie da nicht rein konnten und die zwei Verletzten nicht entdeckten. So hat man`s mir erzählt.

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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