Familiengeschichten
Hanna Marschalok
Interview aufgezeichnet: von Mykhailo Marshalok село Старий Скалат, Тернопільська область, Україна 08.01.2021

Hanna Marschalok

Interview mit meiner Oma Hanna Marschalok (geborene Semba). Sie wurde am 12. April 1948 im Dorf Staryj Skalat in der Oblast Ternopil geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern (Mutter 1959, Vater 1960) kam sie ins Internat in der Stadt Bereschany. Nach dem Internat kehrte sie nach Staryj Skalat zurück, arbeitete in der Buchhaltung der örtlichen Brennerei und studierte gleichzeitig im Fernstudium an der Nationalen Universität für Lebensmitteltechnologien Lwiw. Nach dem Abschluss des Studiums arbeitete sie als Lebensmitteltechnologin: zunächst in der Brennerei und später in der Haushaltschemikalienfabrik. Sie heiratete einen Mann aus ihrem Dorf, er war Pole und hieß Stanisław Marszalok [ausgesprochen: Marschalok – A. d. Ü.]. Sie hat eine Tochter und einen Sohn. Sie lebt immer noch im Dorf Staryj Skalat. Im Interview sind die Erinnerungen von Hanna, von unseren Verwandten und Bekannten über unsere Familiengeschichte geschildert sowie über die ukrainisch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit.

Erinnerungen an den Vater

Da weiß ich was von meinem Vater. Erst hat er 12 Jahre lang im Laden gearbeitet, als Verkäufer, und danach im Dorfrat. Und seine Dorfnachbarn, die waren Banderisten [ukrainische Nationalisten, strenggenommen die Nachfolger von Stepan Bandera, dem nationalistischen ukrainischen Politiker, geb. 1909 in Galizien – A. d. Ü.], haben ihn gehetzt, denn sie sagten, er wär Kommunist, denn warum sollte er denn sonst im Dorfrat arbeiten und warum will er sich ihnen nicht anschließen. Er wurde gehetzt. Wisst ihr, was ein Bambettel ist? [Bambettel, vom dt. Bankbettel, eine Bank, die man zum Bett machen konnte und die man auch als Truhe benutzte, denn unter dem Deckel war ein Leerraum; in der Westukraine vom Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts oft anzutreffen – A. d. Ü.] Meine Mutter hat ihn da drin versteckt. Mama hat ihn auch in einem großen Sack versteckt, auf dem Baum hat er auch gesessen, Mama hat ihn in der Dunkelheit versteckt. Und dann haben die ihn gekriegt. Haben ihn in den Keller eingesperrt. Wie lange er da gesessen hat… Meine Schwester ging da zusammen mit meiner Mutter hin und sagte: „Gebt mir den Papa zurück!“ Dann hoben die meine Schwester [Hannas ältere Schwester – M. M.] hoch, sie war noch ganz klein, und setzten sie in eine Pfütze.

Dann wollten sie ihn erschießen, und jeder sagte zum anderen: „Du machst es, Kanarskyj! Nee, du mach’s doch, Kolomijets! Ne, du doch, Risnytschok! Der hat mir doch nix getan. Mir doch auch nicht!“ Da haben sie eine Flasche Wodka getrunken und ließen ihn gehen. Meine Mutter erkrankte an weißem Blutkrebs, Leukämie also, und starb später daran. Vater starb ein Jahr später.

Er hatte da noch einen Bruder, der lebte im Dorf Baraniwka der Oblast Schytomyr. Und da kam zu ihm einmal der Schewtschuk und sagte: „Pawel, mach mal vier Schritte!“ Das hat er gemacht – und der hat ihn erschossen. Da hat er dann 25 Jahre im Arbeitslager Workuta gesessen. Dann wurde er entlassen, kehrte zurück und hat ständig gesagt: „Der Pawlo läuft mir ständig hinterher“ – und hat sich schließlich erhängt.

Der Stjopa [Hannas Neffe, der Sohn von ihrer älteren Schwester Maria – M. M.] hat mir auch gesagt, es gibt ein Foto von diesem Pawlo, von meinem Onkel, da hat mir die Hanja sein Foto geholt. Ich hab diese alten Menschen auch besucht. Eine Frau sagte, der hätte Juden bei sich versteckt, aber das stimmt nicht. Und der Ljuba, der gesessen hat, der war auch bei den Banderisten, er sagte, es gab mehr Unschuldige, die gelitten hatten. „Und dein Onkel auch, und auch dein Vater, weil er damals ein sehr kluger Mensch war.“ Ich weiß noch, als es noch die Kolchose [landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der Sowjetunion – A. d. Ü.] gab, da gab’s so einen namens Henda, und da brachte man in so einem Stoffsack Unterlagen, die Buchhaltung, und mein Vater hat alles geregelt. Und ein sehr begabter Maler war er auch noch. Hat sehr schöne Bilder gemalt. Und ich kann mih an ihn nicht erinnern! Es gab Fotos, aber der Vater von Stjopa hat sie alle verbrannt. Ich stelle mir vor, er hat so ausgesehen wie Stjopa. Man sagte mir, er war auch groß und dünn.

Die Geschichte mit dem Schwein

Wie kam es eigentlich, dass hier Banderisten rumliefen?

Ach, das waren die Einheimischen. Patrioten waren die. Die schlimmsten waren der Risnytschok und der Kolomijets. Die Schwester von meiner Mutter hatte ein Schwein. Es war gerade Krieg, der Mann war an der Front. Sie hatte also ein Schwein, und da hat ihr jemand gesagt, die Banderisten sollen kommen und ihr das Schwein wegnehmen. Da hat sie in der Nacht jemanden geholt, der das Schwein schlachten sollte, und dann hat sie es bei den Nachbarn versteckt. Dann kamen die Banderisten. Das hat sie mir und dem Stjopa persönlich erzählt. Da kommen also die Banderisten, um das Schwein abzuholen, aber das Schwein ist nicht da! Es war im Haus drin, verschlossen. Da haben sie so getobt, die Tür rausgebrochen, gesucht haben sie nach diesem Schwein. Sie war sehr klug!

Polen und Ukrainer

Tja, die Polen und die Ukrainer… Da haben sie sich wirklich nicht so gut vertragen. Man sagte, die einen haben die anderen ermordet. Ob es wahr ist? Ja, wieso denn nicht? Das stimmte so. So kam’s auch mal, das einer, Sadoroschnyj hieß er, zuerst auf die Mauer draufgesetzt und danach erhängt wurde, so haben sie den Mann vernichtet. Viele wurden mal vernichtet.

Wer war denn hier in der Überzahl? Die Polen oder die Ukrainer?

Die Polen vielleicht… Es gab so viele Polen hier. Es gibt hier im Dorf keine Familie, wo nicht auch [ein bisschen] polnisches Blut drin wäre. Polnisch und ukrainisch. Hier gibt’s so was doch gar nicht! Die Mutter von meiner Mutter war Polin, die Mutter von meinem Vater war Polin, Lesjas [Nachbarin – M. M.] Vater war Pole. Und da, wo Petro [Nachbar – M. M.] lebt, da gab’s früher mal eine ganze polnische Familie, die sind 1958 nach Polen gezogen.

Vom Zucker und von den deutschen Soldaten

Hier im Dorfklub gab es eine Werkstatt, und beim Vater von deinem Opa [Hannas Mann – M. M.] hausten deutsche Soldaten [während der deutschen Besatzung der Ukraine – M. M.]. Daran kann er sich sehr gut erinnern, war noh klein, und da stand so ein großer Ofen [russischer Ofen mit Schlafplatz – A. d. Ü.], wo man sich da drauflegen konnte, und da gab’s Zucker. Und immer standen die Deutschen da Wache. Und einer war sehr lieb, hat ihn und seine Schwester immer hochgehoben und gab ihnen Zucker. Das weiß er noch sehr gut.

 

Anmerkung

Das Dorf Staryj Skalat befindet sich im Osten der Oblast Ternopil nahe der Stadt Skalat. Vor dem Krieg war es polnisches Territorium. Im Dorf lebten Polen, Ukrainer und Juden. Während der deutschen Besatzung wurden alle Juden zunächst ins Ghetto von Skalat transportiert, wo eine große jüdische Gemeinde lebte, und später in Konzentrationslager. Als die sowjetische Regierung kam, zogen die meisten Polen nach Polen. Im Dorf gibt es auch heute noch zwei römisch-katholische Kirchen: die des Seligen Jakub Strepa und die der Heiligen Kosmas und Damian (erbaut im 17. Jahrhundert).

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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