Heinz Goetz
Mein Großvater wurde 1939 in Delmenhorst geboren. Kurz darauf wurde sein Vater, ein Beamter, nach Orlová (damals Orlau) versetzt, ein Ort im Osten des heutigen Tschechiens. 1945 musste die Familie Richtung Westen flüchten. Im folgenden Interview erzählt mein Großvater von seiner Kindheit in Orlová und von seinen Erinnerungen an die Flucht zurück nach Delmenhorst.
Beginnen wir am Anfang. Kannst du mir von deinen ersten Lebensjahren erzählen?
Ich wurde als erstgeborener Zwilling am 4. Januar 1939 in Delmenhorst geboren. Eine Seltenheit für heute, damals eine Hausgeburt, anwesend waren eine Hebamme und ein Geburtshelfer. Alles ist hervorragend gelaufen und wir sind auch beide gut gelungen. [lacht] Mein Vater war Beamter bei der Post, meine Mutter war als junges Mädchen als Haushaltsangestellte bei einem Bürgermeister in einem Dorf nahe Bremen beschäftigt. Mein Vater kam als Jugendlicher mit 15 Jahren nach Delmenhorst, aus Schlesien, arbeitete erst bei der Wolle und wurde dann bei der Post angestellt. 1929 haben die beiden geheiratet, im gleichen Jahr wurde meine Schwester geboren, also sie ist neun Jahre älter als mein Bruder und ich.
1941 wurde mein Vater von der Post zwangsversetzt ins Sudetenland, nach Orlau, so hieß der Ort, im Kreis Mährisch-Ostrau. Dort war er beim Postamt im Innendienst beschäftigt, bis er 1943 zur Wehrmacht eingezogen wurde. In Orlau habe ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht. Orlau lag in der Nähe vom Erzgebirge, es war etwas hügelig und gebirgig gewesen, eine sehr schöne Landschaft. Meine Schwester ging in Orlau zur Schule, da sie ja neun Jahre älter war, und lernte dort auch eine tschechische Schülerin kennen, mit der sie sich anfreundete. Die beiden haben sich später auch mal besucht. Also jetzt, in diesem Jahrhundert. 1945 mussten wir Orlau verlassen, es hieß innerhalb von 24 Stunden übers Erzgebirge nach Deutschland. Wir sind zuerst mit dem Zug Richtung Dresden gefahren, wie lange die Fahrt gedauert hat, weiß ich nicht. Dann sind wir zu Fuß weitergegangen, haben Soldaten kennengelernt, die angeblich desertiert waren, und haben dann drei Nächte im Wald geschlafen. Weil die Soldaten nicht auf der Straße gehen durften, um nicht erwischt zu werden, darum gingen sie mit uns nur durch den Wald. Beim Schlafengehen abends hörten wir die Russen sprengen, sie waren also nicht mehr weit entfernt.
Warum wir so schnell raus mussten? Der Vater von der Freundin meiner Schwester hat gesagt: „Ihr müsst schnell raus, die Russen sind in der Nähe und die Tschechen haben schon Bäume ausgeschaut, an denen ihr aufgehängt werden sollt!“ Richtung Delmenhorst wollten wir gehen, waren auch insgesamt vier Wochen unterwegs, die meiste Zeit zu Fuß. Viele Sachen hatten wir nicht… Ich war damals sechs Jahre alt. Hab‘ natürlich den ganzen Ernst der Sache nicht so mitbekommen. Vielleicht wars auch gut so. Und wir sind dann nach ungefähr vierzehn Tagen bei einer Gärtnerei untergekommen, haben dort ein paar Tage verbracht und auch dort mussten wir wieder weg. Der Gärtner war Sanitäter beim Militär und die haben uns gut aufgenommen und uns auch gut versorgt. Mein Bruder wurde krank, der Gärtner hat ihn wieder hochgepäppelt. Sorgen hatten wir um meine Schwester, weil die Russen ja mit den Frauen nicht zimperlich umgegangen sind. Man hat sie dann oben unterm Dachboden in ein Zimmer eingesperrt und Möbel davorgestellt, so dass man sie nicht finden sollte.
Wir sind dann aber auch auf Anraten des Gärtners weitergezogen und sind dann zu Fuß, manchmal auch mit dem Auto mitgenommen worden, über Chemnitz, Halle, Wernigerode, Bremen nach Delmenhorst gegangen. Über die Erlebnisse unterwegs kann ich nicht mehr so viel erzählen, denn als Sechsjährige haben wir das auch so ein bisschen als Spielerei empfunden. Wenn wir Militärautos oder kaputte Autos gesehen haben, sind wir hin, wir haben damit gerne gespielt. Es war gut so, dass wir die Zeit so überbrückt haben. In Bremen angekommen war alles zerbombt gewesen. Bremen war ja tüchtig zerbombt gewesen, weil es ja eine Industriestadt gewesen war, mit Rüstungsindustrie und Häfen und Drum und Dran, sodass meine Mutter ganz verzweifelt war und dachte, da wird wohl von Delmenhorst auch nicht viel übriggeblieben sein. Dann sind wir von Bremen aus auf einen Kohlewagen, die haben uns mitgenommen, ein Delmenhorster, der hat von Bremen Kohlen geholt und ist nach Delmenhorst gefahren, und dann zu Fuß weiter. Wir sind ungefähr eine Viertelstunde gegangen, dann kamen wir da an, wo wir vorher gewohnt hatten, bei meiner Tante und meinem Onkel.
Die haben uns zuerst gar nicht erkannt! Bis auf meine Schwester, die hat die Tante gekannt und ist hingelaufen und hat der Tante etwas gesagt und dann haben sie uns erkannt. Und das erste, was wir gesagt haben: Wir möchten Pudding essen! Dann haben wir erstmal vernünftig gebadet, weil wir unterwegs ja ganz schön staubig und dreckig geworden waren, und haben dann unseren Pudding bekommen und sind dort untergekommen. Mein Vater war nicht zu Hause, wir wussten zu dem Zeitpunkt nicht, wo er war.
Er war da mittlerweile, was er uns später erzählt hat, in amerikanischer Gefangenschaft in Bayern. Also wir kamen in Delmenhorst an, das war im Mai 1945. Und im August kam mein Vater aus der Gefangenschaft. Er ist nicht zu meiner Tante und meinem Onkel gegangen, sondern zum Anfang der Straße zu Bekannten, Nachbarn, und hat erstmal gefragt, ob wir überhaupt in Delmenhorst sind. Und die haben dann gesagt, ja, die ganze Familie ist da. Und dann kam er da nun zu uns rein…du kannst dir nicht vorstellen, wie groß die Freude war! Es fällt mir schwer darüber zu sprechen…
Danke für deine ganzen Erinnerungen! Lass uns nochmal zurück zu deiner Zeit in Orlau gehen: Wie habt ihr denn da gewohnt? Du und dein Bruder, habt ihr euch da ein Zimmer geteilt?
Wir haben uns ein Zimmer geteilt, mein Bruder und ich. Meine Schwester hat ein Zimmer für sich gehabt und meine Eltern hatten ein Schlafzimmer. Also wir hatten gehabt: Eine Riesenwohnküche, ein Riesenflur, ein großes Wohnzimmer, eine Deckenhöhe von 3,50m. Also das war schon eine große Wohnung gewesen. Orlau war Bergwerksgebiet, dort wurde Kohle abgebaut. Wir haben da im Postamt gewohnt und die Kohlestollen, die gingen auch unter unserem Haus durch, man hat also nachts manchmal die Bohrhämmer von den Kohlehauern gehört. Und es war landschaftlich sehr schön gewesen. Wir hatten eine Riesenspielkiste, das war wie so eine große Kartoffelkiste, ein Riesending, da sind wir reingekrabbelt und haben uns immer was rausgesucht. Da haben wir auch Schubkarren gehabt, weißt du, so aus Holz. Die haben wir natürlich auseinander gemacht und von diesen Griffen haben wir dann Schießgewehre gemacht, wir kannten ja die Bilder vom Krieg. Also wenn wir ins Kino gegangen sind, war immer die Wochenschau vom Krieg. Da waren wir als Kinder begeistert gewesen. Da haben wir das kaputt gemacht und hatten dann ein Schießgewehr. [lacht] Ja wir haben viel Spielzeug gehabt.
Und mit welchen Kindern habt ihr da so gespielt?
Ja da waren deutsche Kinder gewesen, mit denen haben wir dann gespielt. Also in den Kindergarten sind wir nicht gegangen. Wir sind mal dahin gegangen, zu den Kindern, und die sind dann auch immer zu uns gekommen, also so ein großer Spielkreis war es nicht gewesen. Und ein, zwei Familien, die deutsch waren und so weiter, und deren Eltern auch irgendwie beschäftigt waren, ne? Und ein Waisenhaus gabs da. Da sind wir immer hingegangen, wenn die Weihnachtsfeier hatten, dann warn wir immer mit eingeladen. Mit Weihnachtssingen und so, das haben wir dann mitgemacht.
Und in dem Waisenhaus, da waren dann auch tschechische und deutsche Kinder, oder…?
Nee nur deutsche. Das war ein deutsches Haus gewesen. Das war ja das Schlimme! Die Deutschen haben das ja besetzt, Sudetenland, Böhmen, Mähren. Protektorat von Hitler und so weiter, haben sie das einfach übern Schnabel genommen und das für Deutsch erklärt. Und dann waren wir – wir waren nicht angesehen – aber die waren zu uns nett gewesen, weil sie gesagt haben, na gut, wenn wir nicht nett zu denen sind, dann werden sie uns auch wegtransportieren, nach dem Motto, ne? Also waren sie schon nett gewesen. Und die Deutschen haben da ja auch viel Geld gelassen. Aber das haben wir dann zu spüren bekommen, in den letzten Wochen vor Kriegsende. Also das war schon schlimm. Wiegesagt, der Vater hat gesagt geht weg, die haben die Bäume schon ausgesucht, wo die ganzen Deutschen aufgehängt werden sollen. War schon schlimm.
Weißt du noch, wie das war, als dein Papa 1943 eingezogen wurde? Und wo musste er hin, hat er da mal was erzählt?
Nee, das weiß ich nicht. Ich weiß nur noch, als er dann da von Delmenhorst nach Orlau versetzt wurde, da war er noch kein Beamter, da war er in einem Angestelltenverhältnis. Und als er dann eingezogen werden sollte, da hat der Leiter des Postamts gesagt: „Du musst deine Familie versorgen, und wenn du deine Familie versorgen willst, dann musst du Beamter werden. Und wenn du Beamter werden willst, dann musst du in die Partei eintreten!“ Also hat das mein Vater gemacht, um die Familie zu versorgen, darum ist er in die Partei eingetreten. Er hat das Parteiabzeichen gehabt, so ein Hitlerbild haben wir geschenkt gekriegt, das wir aufhängen mussten in der Stube. Da hat meine Mutter, als wir flüchten mussten, den Feuerhaken rausgeholt und damit das Bild kaputtgeschlagen. Meine Schwester hat gesagt: „Lass das, lass das, wenn die Gestapo das sieht, die sperren uns ein!“ Und dann hat sie das kaputte Bild hinter den Wohnzimmerschrank geschoben. Das weiß ich noch. Ich sehe meine Mutter noch mit dem Feuerhaken da… Dann hat sie das Foto aufgehoben, „Du verfluchter Hund!“, hat sie gesagt zu Hitler.
Und dann 1945 weißt du noch wie da die Nachricht gekommen ist, dass ihr flüchten müsst? Was da passiert ist in den nächsten Stunden?
Ich weiß nur, dass Mutter gesagt hat: „Anziehen!“ Wir haben dann jeder einen Rucksack gekriegt, da haben wir Schuhe und so das Nötigste reingetan – mehr konnten wir nicht mitnehmen. So sind wir zum Bahnhof, das weiß ich noch, zum Bahnhof in Orlau, der war proppenvoll, also ein Gewusel von Menschen, du… Also rein in den Zug, auf den Sitzen konnte man stehen, das war egal gewesen. Wir sind vielleicht zwei, drei Stunden gefahren, dann hieß es: „Alles raus aus dem Zug, es ist ein Bombenangriff!“ Mein Vater hat das mitgekriegt und hat gesagt, „Meine Familie war in diesem Zug“, das hat er dann mitgekriegt, „die leben schon alle nicht mehr.“ Mit diesem Wissen ist mein Vater bis zum Kriegsende gewesen.
Er hat die ganze Zeit gedacht, ihr seid in dem Zug erwischt worden?
Ja. Dann ist er noch bei unserer Wohnung gewesen, hat er noch das Hochzeitsbild mitgenommen, das hat er den Rest des Krieges in der Gefangenschaft immer bei sich gehabt. Deswegen ist er in Delmenhorst nicht gleich zu meiner Tante und meinem Onkel gegangen, sondern ist zuerst zu den Nachbarn, ein Stück weg von unserer Wohnung. Er wollte da nicht so hin, wenn wir nicht da gewesen wären, ne? Aber wir sind ja alle gut angekommen.
Wie habt ihr das dann in den vier Wochen während der Flucht gemacht? Und wo habt ihr da geschlafen?
Also meistens in Sporthallen und so weiter, da waren so Lager gewesen, wo die, die auf der Flucht waren, dann unterkommen konnten. In jeder Stadt war dann immer sowas gewesen. Ja da sind Hunderte in diesen Hallen drin gewesen. Und dann gabs da auch noch Verpflegung! Milchsuppen und sowas alles. Musste man froh sein, dass man was bekommen hat. Und dann, als wir bei der Gärtnerei waren, da sind wir auch gut versorgt worden. Naja was man zwischendurch mal bekommen hat, ne? Während des Kriegs waren die Gefahren gewesen, Bombardierung, da sind auch Bomben gefallen, ich bin auch oft im Luftschutzkeller gesessen. Und ich habe auch eine Gasmaske gehabt, die haben wir gekriegt als Kinder. Dann sag ich, wenn ich jetzt [November 2020, Anm.] so eine kleine Maske vor Gesicht und Mund hab, da sag ich, was regen die sich auf? Wir haben da eine Gasmaske gehabt, die war voll aus Gummi, übers ganze Gesicht, der ganze Kopf war verdeckt gewesen, und vorne war so ein Filter, hier so [deutet die Umrisse an], das war nicht schön.
Und wie war das dann, weil du gesagt hast, verschiedene Besatzungszonen? War das ein Problem, oder war das schwierig, da über die Grenzen zu kommen, oder…?
Zuerst, da haben wir nur Russen gehabt, da in der Ecke. Ja. Und dann haben wir auch noch andere Stimmen gehört, und das waren dann die Amerikaner. Da waren wir froh. Vor den Russen hatten wir alle Respekt gehabt. Die gingen über Leichen.
Kannst du dich noch erinnern an die russischen Soldaten und an die amerikanischen Soldaten?
Ja, wir sind manchmal durch Ecken gelaufen, da hausten rechts und links die Russen, mit ihren Fahrzeugen dann. Aber meine Schwester wurde ganz alt gemacht, mit Tüchern und Drum und Dran, dass sie aussah wie eine alte Oma, und Mutter auch, und dann haben sie zwei kleine Kinder dabei, da haben die Russen uns rausgelassen.










Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.