Ich hatte ein Interview mit meinem Opa geplant. Er hat viel zu erzählen, denn seine Kindheit fiel mit der Kriegs- und Nachkriegszeit zusammen. Außerdem gibt es bei den Verwandten meines Vaters viel Interessantes, was die Familiengeschichte angeht.
Ururgroßvater wurde entkulakisiert [Entkulakisierung: Enteignung und Deportation, gelegentlich auch Exekution, von relativ wohlhabenden Bauern in der Sowjetunion während der Diktatur Stalins – A. d. Ü.], denn er hatte Lohnarbeiter bei sich und als Pfandleiher tätig war (Gelddarlehen gegen ein Pfandrecht, das später samt Zinsen zurückgezahlt werden soll). Sein Sohn, mein Urgroßvater (wir werden ihn hier P. nennen, weil P der erste Buchstabe seines Namens war), war beim Militär und nahm am Winterkrieg teil [Krieg zwischen der Sowjetunion und Finnland, 1939-1940 – A. d. Ü.]. Während der Erstere dem Sowjetregime den Verlust seines gesellschaftlichen Status nie verzeihen konnte, war der Letztere leidenschaftlicher Kommunist, ging freiwillig zum Militär und war von Stalins Regime fest überzeugt. „Man musste das so machen, sonst gäbe es das Land jetzt nicht…“, das hat Urgroßvater P. laut Opa gesagt, wenn angetrunken.
P. wurde 1914 in der Stadt Bijsk geboren. Nach Abschluss der 10. Klasse arbeitete er in einer Fabrik. P. heiratete 1937, und im selben Jahr wurde sein erster Sohn geboren. Sein zweiter Sohn, mein Großvater, wurde 1939 geboren. Während des Winterkrieges trat er in die Armee ein, wo er nach einer Offiziersausbildung blieb. P. diente bis 1954 beim Militär. Der Militärberuf war mit ständigen Rotationen verbunden, so dass die Familie meines Opas ständig umzog. In den zehn Schuljahren musste mein Großvater 9 Schulen wechseln. Sie lebten in Zentralasien, im Baltikum, in Russland, in der Ukraine und in Moldawien.
Laut Opa sprach Urgroßvater nicht gern über den Krieg. Er erzählte ihm einmal von seinem Eindruck vom ersten Schuss, der den Feind genau traf. Opa erzählte, dass sich das Gesicht von P., normalerweise relativ emotionslos, in das Gesicht eines verängstigten Kindes verwandelte. „Ein Mensch soll keinen anderen Menschen töten“, sagte P. zu meinem Opa und seinem Bruder. Als P. in den Krieg zog, hatte er bereits zwei Söhne, und nach dem Krieg wurde seine Tochter geboren. Er hatte etwas, was er beschützen musste. Bis nach Berlin schaffte es P. nicht. Bei der Offensive an der Weichsel (1945) traf ein Projektil seinen Schützengraben. Von den 15 Menschen überlebten nur zwei. P. erlitt schwere Verbrennungen, auch im Gesicht. „Ich weiß noch“, sagte Opa, „es tat ihm weh, sich zu rasieren. Im Laufe der Zeit heilte das Gesicht jedoch, und etwa zehn Jahre später verschwanden die Schmerzen und die Verbrennungsnarben wurden fast unsichtbar.
Warum habe ich also kein Interview mit meinem Opa aufgenommen und vor allem, warum enthält der Text weder seinen Namen noch den Namen seines Vaters oder des Vaters seines Vaters? Denn mein Opa, der am Anfang zugestimmt hat, das Interview aufzuzeichnen und es zu veröffentlichen, hat es sich am Tag vor dem Interview doch anders überlegt. Die lange und aufwändige Vorbereitung, die Fragen, meine Bekannten, die ich um Hilfe gebeten habe, um das Interview aufzuzeichnen und die Materialien ins Englische zu übersetzen… Am Ende war das alles vergeblich und wurde zu einer großen Enttäuschung. Aber nur im ersten Moment.
Opa hat seine Absage argumentiert. Er wollte, dass unsere Familiengeschichte innerhalb der Familie bleibt, und, trotz all meiner Bemühungen, beharrte er bei seiner Meinung. Ein weiteres Argument seinerseits (das dem bereits genannten übrigens zeitlich vorausging und für Opa selbst viel wichtiger zu sein schien) war der Unterschied zwischen der eigenen Meinung meines Opas, was die Ereignisse der Vor- und Nachkriegszeit (und die Rolle gewisser Personen in diesen Ereignissen) angeht, und der in der heutigen Ukraine diesbezüglich allgemein vertretenen Meinung. In erster Linie geht es um die Verneinung der Rolle der Ideologie im Sieg über den Faschismus. Opa sagte: „Den Krieg haben Kommunisten gewonnen. Mein Vater war Kommunist. Ich will nicht, dass diese Meinung verzerrt und verspottet wird. Weißt du, Serjoscha, es kommt darauf an, wie man’s versteht. Und ich will nicht, dass man es falsch versteht…“
Dass es mit dem Interview doch nicht klappen wird, habe ich am Tag davor erfahren, als ich meinen Opa angerufen habe, um mit ihm letztendlich einen Termin dafür zu vereinbaren. Als er nein sagte, war ich ehrlich gesagt sehr gekränkt… Ihm habe ich das natürlich nicht gesagt, noch zehn Minuten versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, dass all die Materialien nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts (etwa 30 Personen) sehen würden, und die würden seine Stellung doch bestimmt kritisieren, denn es geht ums Erforschen und nicht ums Kritisieren. Es hat nichts gebracht. Als ich auflegte, war ich sehr wütend und enttäuscht. „Hätte er’s denn nicht gleich sagen können…?! Oder wenigstens zwei Wochen im Voraus…?!“, das waren meine Gedanken in den ersten zehn Minuten nach dem Telefongespräch mit Opa.
Mir war klar, dass es sehr schwierig sein wird, so schnell jemand anderes zu finden, die oder den ich befragen könnte. Aber ich habe es versucht. Uns mich sogar mit einer Tante von mir verabredet, deren Vater auch im Krieg war, aber… COVID-19! Nun muss sie zu Hause in Quarantäne bleiben, weil sie Corona hat (ich wünsche mir so sehr, dieses total unglückliche Jahr wäre schneller vorbei).
Und nun zurück zur Geschichte mit meinem Opa. Ich muss sagen, dass ich noch etwa einen Tag lang sauer war. Danach fing ich an, über die ganze Situation nachzudenken. Es war sehr hilfreich, denn ich habe das Ganze, die vergeudete Zeit und den vergeblichen Aufwand, in einem neuen Licht gesehen. Um den Fragebogen für das Interview zu erstellen, habe ich mit Opa schon in der Vorbereitungsphase mehrmals gesprochen. In den drei Wochen vor dem Interview habe ich alle 2-3 Tage mit ihm telefoniert und über bestimmte Sachverhalte ausgefragt, die mir als Grundlage dienten, um den Fragebogen zu erstellen. Natürlich haben wir nicht nur über unsere Familiengeschichte gesprochen, sondern auch andere Themen angeschnitten. Früher haben mein Opa und ich solche abendlichen Telefonate eher selten veranstaltet (obwohl wir uns im Sommer sehr viel unterhalten, wenn er fast jeden Tag vorbeikommt). Nun rufe ich ihn alle 3-4 Tage unbedingt an und wir reden miteinander. Mein Opa ist sehr gebildet, da hat er wirklich viel zu erzählen.
Als ich über die Situation nachdachte, fiel mir noch etwas ein. Während des Telefonats am Tag vor dem geplanten Interview, das dann doch nicht aufgenommen wurde, habe ich darauf geachtet, was mein Opa sagte. Erst später fiel mir ein, wie er das sagte. Gewöhnlich ist sein Auftritt sehr selbstsicher, auch wenn er etwas nicht weiß oder unrecht hat. Während dieses Gesprächs schien seine Stimme jedoch… voller Selbstschuld. Man könnte hier sagen: Na und? Er hat das Versprechen nicht gehalten, das er seinem Enkel gegeben hat. Wie soll seine Stimme denn sonst dabei klingen? Klar, bei jemand anderem wäre das wohl auch richtig. Aber nicht bei meinem Opa. Seine Beharrlichkeit (oder Sturheit, würde ich sagen), sein fester Glaube daran, dass er recht hat, sind in der Regel unerschöpflich. Und dies hat sich schon immer auch in seiner Stimme manifestiert. Und bei diesem Telefonat – da habe ich Schuldgefühle wahrgenommen…
Nachdem ich unser Gespräch dann in meinem Kopf nochmal durchgespielt hatte, war ich mir sicher: Opa hat seine Gründe, über jene Zeiten nicht in der Öffentlichkeit zu erzählen, und diese Gründe muss ich respektieren. Was mir danach bleibt? Außer neuer Kontakte und nützlicher Kenntnisse, die ich während der Trainings erworben habe, war es unglaublich schön, stundenlang mit meinem Opa zu reden. Alles, was ich am Anfang schilderte, habe ich aus diesen Gesprächen.
Ob mir die vergeudete Zeit leid tut? Ja, das tut sie immer noch. Ob ich die Zeit zurückdrehen möchte, die ich mit Gesprächen mit Opa verbrachte? Nein! Ich möchte dem Projekt für die Gelegenheit und für den Ansporn danken, mich mit einem Familienmitglied von mir zu unterhalten. Das war sehr interessant. Kaum zu glauben, aber drei Stunden bevor ich diesen Text geschrieben habe, habe ich nochmal mit Opa telefoniert.