Familiengeschichten
Iwan Holjak
Interview aufgezeichnet: von Mykhailo Didenko Online 22.11.2020

Iwan Holjak

Die Geschichte meiner Familie spiegelt das Leben unter dem totalitären Regime wider. Alles, was meine Urgroßeltern erlebt haben, zeigt den fehlenden Respekt vor Menschen, Moral und Menschenreсhten, die Einmischung ins Privatleben und Verfolgung. Genau deswegen wurden Millionen Menschen unter der sowjetischen Diktatur zu Opfern der Willkür des totalitären Staates. Viele konnten sich nie wieder mit ihren Familien vereinen.

Ich möchte über eine Begebenheit der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts erzählen und wie es meinem Opa dabei erging. Ich beginne mit der Vorgeschichte. Mein Opa wurde im Dorf Iwaniwka der Oblast Tscherniwzi geboren. Als diese Geschichte begann, war er gerade 9 Jahre alt. Er lebte zusammen mit meiner Uroma, seiner Mutter namens Paraskowija Holjak (geborene Olijnyk), und ohne Vater (Mykola Holjak), der die Familie verlassen hatte und im Dorf Krechiw der Oblast Lwiw.

 

Im November 1950 arbeitete meine Uroma als Gruppenleiterin auf der Kolchose. Einmal hat es während der Ernte sehr stark geregnet, und die Erntemaschine hatte kein Dach, da hat sie sich eine Lungenentzündung zugezogen. Opa erzählte, Anfang des Winters 1951 wurden viele Menschen nach Sibirien deportiert. Darunter auch viele Menschen aus seinem Dorf. Deportiert wurden Altgläubige, Baptisten, deren Glaube verboten war. Nicht nur sie natürlich, aber in den meisten Fällen schon. Wer einen Mann oder wohlhabende Verwandte hatte, konnte sich wehren und bleiben. Zu der Zeit versuchte ein Brigadeleiter [Brigade: vom russ. brigada: kleinste Arbeitsgruppe in einem Produktionsbetrieb – A. d. Ü.], meiner Uroma den Hof zu machen. Sie hat ihn zurückgewiesen, woraufhin er beim Dorfrat eine Denunziation gegen sie eingereicht hat. Deswegen wurden Opa und Uroma auch deportiert. Mitten in der Nacht kamen NKWD-Leute und Soldaten mit einem Lkw und brachten Uroma und Opa zum Bahnhof. Dort warteten bereits Güterwaggons auf sie, die waren nicht groß, 20 Tonnen. In den Waggons wurden Peitschen aufgestellt, auf denen man schlafen konnte. Opa erinnert sich noh gut daran, wie Menschen unterwegs starben. Die Fahrt dauerte etwa zwei Monate. Wenn der Zug hielt, wurden die Toten abgeholt und irgendwo in der Ecke aufeinandergelegt. Wenn jemand auf die Toilette musste, wurde er von Soldaten umzingelt und musste sein Geschäft irgendwo hinter dem Zug oder auf den Schienen verrichten. Wenn der Zug fuhr, gab es keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen. Zu essen gab man den Menschen nicht wirklich was, da aß man das, was man von zu Hause mitgenommen hatte. Oma Sina, wie sie von Opa und von allen meinen Verwandten, die sie gekannt haben, genannt wird, war die Schwester von Paraskowija, Opas Mutter, und die Tante von Opa. Sie hat einen Eimer voll Schmalz und Wurst mitgenommen, deshalb hatten Opa und Uroma was zu essen, Lebensmittel wurden nicht weggenommen.

 

Opa erzählt: „Ich weiß noch, wir fuhren am Baikalsee vorbei. Da kamen wir nach Irkutsk und dann in eine Siedlung in der Nähe. Wie heiß sie nochmal? Ach ja, Oktjabrskoje. Und einen Fluss gab es dort, dieser Fluss floss durch die ganze Siedlung. Er war breit und eignete sich gut für den Holztransport, Flößerei also. Wir wurden in Baracken untergebracht. Dort standen fünf Baracken oder so, die waren lang. Auch Mutter und ich wurden dort untergebracht. Die Siedlung befand sich auf dem anderen Ufer, und wir wohnten nun in der Taiga. Nur fünf Baracken standen dort und weiter nichts. Es wurden auch Schienen gelegt, wahrscheinlich um das Holz bis zum Fluss zu transportieren. Dort arbeiteten die Menschen. Alle, die aus der Ukraine kamen, arbeiteten als Holzsäger. Es gab auch einen Laden, wo Brot verkauft wurde. Das Brot war so schwarz wie die Erde, wie die echte ukrainische Schwarzerde, so kriegten wir Brot. Dann wurde Mutter, deine Uroma, krank und ist daraufhin gestorben. Als sie starb, sagte sie: bringt ihn weg, das heißt, man sollte mich wegbringen. Und dann ist sie gestorben. Sie wurde dort begraben, im Wald. Dort gab es nichts. Bäume gab es und ein paar Grabsteine, zwanzig vielleicht oder so, vielleicht auch mehr.“

So kam es, dass meine Uroma im Alter von 30 Jahren an Komplikationen einer Lungenentzündung starb. Opa war damals kaum 10 Jahre alt.

 

 Opa erzählt weiter: „Also wurde meine Mutter begraben und ich blieb allein. Es gab nichts zu essen, alle hatten eigene Kinder und bemühten sich darum, diesen genug Essen zu verschaffen. Und was machte ich? Der dortige Fluss war sehr breit, und da gab es auch Flöße. Da kletterte ich auf diese Flöße, band ein Stück Draht an einen Faden, das ergab so was wie einen Angelhaken, und angelte. Den Fisch habe ich dann auf offenem Feuer gebraten und gegessen. Davon lebte ich. Dann wollte man mich ins Kinderheim bringen, aber jemand von der Verwandtschaft, denn wir hatten dort auch Verwandte, die Kinder von der Schwester von meiner Mutter, Anja und Schenja, meine Cousinen. Und sie haben meinem Opa geschrieben, dem Vater von meiner Mutter, haben ihn verständigt.“

 

Später sagte Opa, dass er nicht hungrig herumlief und bei seinen Cousinen wohnte, denn sie haben ihn aufgenommen. Aber er ging oft zum Fluss, um zu angeln, ging auch in den Wald, spielte bei der Eisenbahnstation.

 

Opa erzählte auch: „Dann kam mein Opa nach Irkutsk und in die Siedlung. Er entführte mich und wir fuhren nach Hause. In Moskau mussten wir umsteigen. Dort habe ich zum ersten Mal ein Aquarium mit Fischen gesehen. So was hatte ich da noch nie zuvor gesehen. Die kleinen Aquarien standen im Bahnhof. Dann kamen wir nach Iwaniwtsi. Opa Hryhir wollte mich adoptieren. Da gingen wir in den Dorfrat und haben einen Adoptionsantrag gestellt, um alles gesetzlich zu regeln. Aber wie denn, wenn mein Vater ja noch am Leben war. Er hat uns nämlich verlassen, aber Mutter und er waren nicht geschieden. Dann haben die KGB-Leute nach meinem Vater gesucht. Und auch gefunden, denn er lebte ja nicht so weit, in der Westukraine, im Dorf Krychiw. Er hat nochmal geheiratet, hatte in Krychiw schon eine Frau, meine Stiefmutter. Da ging er nach Hause, um sie zu fragen, ob sie mich aufnehmen sollten oder nicht. Eigene Kinder hatten sie keine. Da haben sie sich dafür entschieden, mich aufzunehmen, und Vater kam nach Iwaniwtsi, denn da wohnte ich bei meinen Großeltern, zusammen mit Onkel Hryhir und meiner Tante. Und dann nahm mich Vater mit nach Schydatschiw, wo ich auch geblieben bin.“

 

Erwähnenswert ist auch, dass der Umzug nach Schydatschiw (eine Stadt in der Oblast Lwiw) für meinen Opa sehr schwer war. Er stammte aus der Oblast Tschernowitz. Wegen der kulturellen Unterschiede und weil er einen anderen Dialekt sprach, wurde er von anderen Kindern und von seinen Mitschülern gehänselt. Lange verzichtete er deshalb auf den Schulbesuch und konnte weder Freunde noch seinen Platz im Leben finden.

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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