Maria Brunnenkant
Als Maria nur ein paar Wochen alt war, hatte der Zweite Weltkrieg seine singuläre, menschenfeindliche und grausame Dynamik bereits entwickelt. Die ersten Jahre ihrer Kindheit sind geprägt von dem beinahe Verlust ihres Bruders bei den Bombenattacken auf Bielefeld und Enger, der Abwesenheit ihres Vaters, weil er die die Kriegsführung und die Behandlung der Juden kritisierte, und ihrer Mutter, die krank (Herzasthma) und verschlossen wegen dem Zweiten Weltkrieg und seiner Konsequenzen wurde.
Wie würden Sie den sozialen Status ihrer Familie und ihre Kindheit beschreiben?
Mein Vater hat einen guten Lohn verdient. Er war Ingenieur bei Gildemeister (heute DMG Mori Aktiengesellschaft) und entwickelte Werkzeugmaschinen. Meine Mutter blieb mit uns zu Hause, in unserer Wohnung, ein paar Straßen vom Kesselbrink entfernt. Wenn die Briten und die US-Amerikaner unsere Stadt (Bielefeld) bombardierten, welches sie oft taten, versteckten wir uns alle im Keller. Später bekam meine Mutter Herzasthma, wahrscheinlich wegen den Bombardierungen und der damit verbunden Angst vor ihnen. Aber ich hatte keine Angst, weil meine Familie, besonders mein Vater, da war. Er war mein bester Freund.
Wie habt ihr über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und über eure Meinung zu dem NS-Regime gesprochen ?
Meine Mutter hat nie darüber geredet. Aber mein Vater hat mit meinem Bruder und mir über den Krieg geredet. Also war ich mir über den Krieg bewusst, aber Mani war der Krieg vermutlich bewusster als mir. Mani war ein paar Jahre älter als ich es damals war, deswegen dachte mein Vater, dass Mani mehr Informationen vertragen würde und ihm die schrecklichen Taten der Nationalsozialist*innen bewusster sein sollten. Als wir die Brüder meiner Mutter besuchten, welche von der NS-Ideologie und Adolf Hitler überzeugt waren, sagte Mani zu ihnen: „Mein Vater sagt wir werden sowieso den Krieg verlieren!“
Wie veränderten sich die Gespräche über den Holocaust/ die Shoah nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs?
Mutters Handhabung mit den Ereignissen bleib unverändert, sie blieb verschlossen und wollte sich nicht mit der schwierigen Zeit befassen. Sie war eine einzigartige Frau, aber der Zweite Weltkrieg schockte sie sehr. Als ich älter wurde, begann mein Vater mir zu erklären was die Konzentrationslager gewesen sind und kaufte mir Bücher über sie. Die Bücher waren hilfreich, denn wir wurden nicht wirklich über den Holocaust / die Shoah in der Schule unterrichtet. Es wirkte so, als würden die Leute nicht darüber reden wollten, weil sie Angst haben etwas Falsches zu sagen und weil sie den Nationalsozialismus mittels Vergessens überwinden wollten.
Bevor Sie mir erzählt haben wie sich in ihrer Wahrnehmung der Dialog über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust/ die Shoah entwickelte, sagten Sie, dass ihr Vater sich sicher war, dass die Nationalsozialist*innen den Krieg verlieren würden. Leistete ihr Vater aktiv Widerstand gegen die Nationalsozialist*innen?
Mein Vater arbeitete bei Gildemeister und wenn er Mittagspause hatte, sah er wie die Juden und Jüdinnen gezwungen wurden zum Hauptbahnhof zu gehen, um von dort aus zu den Konzentrationslagern deportiert zu werden. Das machte ihn sehr wütend und sein Chef bekam dies mit, sodass er meinen Vater nach Dresden versetzte. „Wenn du Hitler kritisierst, bist du weg vom Fenster!“, sagte der Chef meines Vaters. Meine Mutter hatte Angst und flehte meinen Vater an: „Bitte, pass auf, was du sagst! Sonst landest du auch noch im KZ wie die Juden!“ Er verließ Dresden, um nach München zu gehen, da er erneut Kritik an den Nationalsozialist*innen äußerte. Zum Glück tat er das, denn ein paar Tage nach seiner Ankunft in München wurde Dresden schwer bombardiert. Als die Alliierten in München ankamen, wurde er in Gefangenschaft genommen. Aber ihm gelang es zu fliehen, um zu uns nach Hause zurückzukommen. Er überlebte, weil er ein Fahrer der Soldaten gewesen ist. Einer der Soldaten besuchte seine Geliebte, während er für meinen Vater zuständig war. Während der Soldat und die Geliebte Zeit miteinander verbrachten, versteckte sich mein Vater in der Orgel einer Kirche, die nahe des Treffpunktes war.
Das ist eine bewegende Geschichte und ich bin glücklich darüber, dass Ihr Vater gesund zu Ihnen, ihrem Bruder und ihrer Mutter zurückgekehrt ist. Aber wie war die Zeit ohne ihren Vater für Sie? Und wie erlebten Sie die „Übernahme“ der Alliierten?
Bevor mein Vater nach Dresden versetzt wurde, kümmerte er sich um unser Wohlergehen. Mani und ich wurden zu einem Freund meiner Eltern nach Enger [eine Kleinstadt 15 Kilometer von Bielefeld entfernt] geschickt. Dort hatten wir ein schönes Leben; die Stadt war klein und wir hatten einen schönen Garten. Als Bielefeld bombardiert wurde und die Alliierten versuchten das Viadukt zu zerstören, hörte ich das sogar dort. Ich legte mich auf den Erdboden im Garten und die Erde vibrierte von den Bomben. Ich werde dieses Gefühl nie im Leben vergessen. Die Bomben beschädigten die Häuser in Bielefeld sehr. Das Dach unseres Haus war auch zerstört worden. Aber Enger wurde auch bombardiert. Eines Tages bat meine Mutter Mani nach Bielefeld zu kommen, um ihr in der Wohnung zu helfen. Die Flugzeuge bombardierten Enger, Mani bekam Angst und ging zurück zum Haus des Freundes meiner Eltern. Zum Glück nahm er nie den Zug nach Bielefeld, denn genau dieser wurde bombardiert. Als meine Mutter und mein Onkel von der Zugbombardierung erfuhren, suchten sie bei dem zerbombten Zug nach Mani; sie wussten zu dem Zeitpunkt nicht, dass er doch nicht im Zug gesessen hatte. Meine Mutter war sehr erleichtert als sie auf die Passagierliste gucken konnte und seinen Namen nicht auf der Liste las.
Maria und ich redeten viel über ihre Erinnerungen und als wir Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Verbindung setzten, waren wir uns beide einig: „Nie wieder nochmal!“ Maria sagte: „Jetzt fangen die Leute wieder damit [das Verletzten anderer Leute wegen ihrer Herkunft oder weil sie eine andere Meinung als sie haben] an. Wer wählt die AFD? Warum dürfen Leute wie die [Leute die anderen Kulturen etc. gegenüber feindlich gestimmt sind] für ihr feindliches Denken demonstrieren ?“ Ich kann ihr nur zustimmen.
Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.