Familiengeschichten
Pylyp Slabyj
Interview aufgezeichnet: von Kateryna Uzhevska Odessa, Ukraina 23.11.2020

Pylyp Slabyj

Schon als Kind hörte ich viele Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb habe ich mich entschlossen, während des Projekts noch mehr über meine Verwandten in jenen schwierigen Zeiten zu erfahren. Meine Geschichte beginnt mit den Erzählungen meiner Oma Switlana über ihre Eltern. Meine Mutter ist Geschichtslehrerin und zu ihren Interessen gehören auch das historische Gedächtnis und die Geschichte Odessas [ukrainische Stadt – A. d. Ü.] im Zweiten Weltkrieg. Deshalb hat sie mir geholfen, alles zu vertonen und zu bearbeiten.

Welche von den Erzählungen deiner Eltern über den Zweiten Weltkrieg sind dir am meisten in Erinnerung geblieben?

 

Meine Eltern nahmen am Zweiten Weltkrieg teil. Unsere Generation, wir sind alle Kinder derer, die den Krieg erlebt bzw. überlebt haben. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, aber ich fange an. Zuerst erzähle ich über meinen Vater.

Pylyp Slabyj ist mein Vater. Er wurde 1910 geboren. Als der Krieg ausbrach, arbeitete er in der Kranbaufabrik von Odessa. Da er ein sehr guter Fachmann war, war er „gebucht“. Das heißt, er durfte nicht eingezogen werden, denn das war eine Militärfabrik, sie durfte nicht stillgelegt werden.

 

Während der Bombenangriffe auf Odessa haben sie Bomben von den Dächern runtergeworfen und dann weitergearbeitet: Aus Traktoren stellten sie NI-Panzer her (Na Ispug, [auf Deutsch: zur Angsteinflößung – A. d. Ü.]). Vater war ein guter Traktorfachmann, Elektriker, Mechaniker, sein Können war also wirklich gefragt. Dann sollten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fabrik evakuiert werden, aber ihre Familien blieben in Odessa. Sie wurden auf dem Schiff „Armenien“ evakuiert (übrigens wurde es kürzlich in der Nähe von Sewastopol versenkt gefunden). Es ging in Richtung Krim. Vater hat schreckliche Dinge erzählt: Wie die Flugzeuge über dem Schiff hin- und herflogen, und es schien, als würden sie jeden Moment eine Bombe abwerfen. Er sagte, da standen einem wirklich die Haare zu Berge. Damals bekam er graue Haare, nach diesem Angriff, als sie auf dem Meer waren und oben die Bombenflugzeuge flogen. Das Schiff sollte ursprünglich in Sudak landen, danach in Sewastopol, aber nirgendwo wurde es die Landung genehmigt. Ich weiß nicht mehr, wo ihre Reise schließlich zu Ende ging: wahrscheinlich in Aluschta oder irgendwo nahe Sewastopol. Sie wurden mit Felspaten und Decken ausgerüstet, man meinte zu ihnen, nun sollten sie damit in den Krieg ziehen: Wer einem Deutschen sein Maschinengewehr und Munition wegnehmen kann, bleibt wahrscheinlich am Leben, wenn nicht… naja…

 

Ein Kriegsposten befand sich auf dem Sapun, ein anderer in der Nähe von Sewastopol. Danach begann der Rückzug zur Station „Wladyslawka“. Die Oberste Heeresleitung floh und ließ die Truppen im Stich. 7000 Soldaten wurden gefangengenommen. Man trieb sie in Richtung Festland (weiß nicht mehr genau), irgendwo nahe Dschankoj, erzählte er. Unterwegs sahen sie einmal ein kaputtes deutsches Fahrzeug, daneben lag eine kleine Zange, die Vater vom Boden aufhob und sich in die Tasche steckte. Weiter sah er getötete Schafe am Wegesrand liegen, da nahm er ein Stück Flomen mit. Das hat ihm schließlich das Leben gerettet.

 

Sie wurden in Baracken untergebracht. Es herrschte strenger Frost, es war sehr kalt. Die Leichen stapelten sich vor den Baracken. Zu essen gab es kaum etwas: Kartoffelschalen und wässrige Suppe aus Weizen, alles einmal täglich. Als der Frost und der Schneesturm ihren Höhepunkt erreichten, entschied sich Vater zur Flucht. Er lief vor der Baracke hin- und her, als wollte er sich dadurch wärmen. Die Deutschen drehten ihm dann den Rücken zu, denn es schien nicht verdächtig, was er da machte. Und so konnte Vater in dieser Zeit den Draht mit der Zange durchschneiden. Denn Metall ist bei Frost brüchig. So konnte er aus dem Lager fliehen. Er entfernte sich davon und kam in ein Dorf. Keiner wollte ihn bei sich aufnehmen, aber eine Frau ließ ihn schließlich im Schuppen übernachten. Man hatte Angst: Hätten die deutschen Soldaten meinen Vater bei jemandem entdeckt, so hätten sie alle erschossen. Natürlich wollte niemand das Leben seiner Familie aufs Spiel setzen, um einem Kriegsgefangenen Unterkunft zu geben. Er versteckte sich. Sie brachte ihm etwas zu essen. Vater aß etwas vom Weizen, aber wenn man gehungert hat, darf man nicht viel auf einmal essen, denn man kriegt davon Blähungen, mein Vater bekam Schmerzen.

 

Aber am nächsten Morgen ging er weiter. Er wollte die Stadt erreichen. Das alles war irgendwo nahe Dschankoj. Unterwegs traf er einen Elektriker, der gerade eine Stromleitung baute. Da hat Vater ihm geholfen, und der Elektriker gab ihm dafür ein Stück Brot. Danach gingen sie in die Stadt, Dschankoj war es, wenn ich mich nicht irre. Dort sah er den Jungen, der in der Nähe von seinem Heimatdorf lebte, da, wo deutsche Kolonisten lebten. Er arbeitete für die Deutschen als Dolmetscher. Vater sagte, der Junge war 14 oder so. Er erkannte Vater. Vater mochte die Schwester von diesem Jungen. Dort hat er mal als Traktorfahrer gearbeitet, 1928 oder irgendwo zwischen 1927 und 1929, für die Kolonisten. Der Junge erkannte ihn: „Tag, Onkel Filja!“ Er brachte ihn in die Kommandantur und fing an, den Deutschen etwas zu erzählen. Da lachten die, und Vater stand da und verstand nicht, warum sie lachten. Und der Junge weinte schon fast, aber da gaben die Deutschen meinem Vater einen Ausweis. Er hatte zehn Tage, um nach Odessa zu gelangen. Man sagte ihm auch, den Rumänen sollte er seinen Ausweis, wenn schon, nicht zu lange vorzeigen, sonst könnten sie ihn ihm wegnehmen. Besonders schwierig war es, als er über die Warwariwka-Brücke in Mykolajiw rüber musste. Aber da standen Deutsche, die haben ihn durchgelassen. Fast hätte er Odessa erreicht, aber dann haben ihn die Rumänen festgenommen.

In Ussatowe, einem Dorf nahe Odessa, gab es ein Lager. Da kam mein Vater hin. Ich weiß nicht mehr, wie lange er dort bleiben musste. Einmal kam eine Frau, die nach ihrem Mann suchte. Als sie ihn nicht gefunden hat, winkte Vater ihr zu: du sollst mich bitte mitnehmen, hieß es. Und diese Frau hat dann den Aufseher bestochen und meinen Vater als ihren Mann mitgenommen. Und dann ging Vater zu Fuß nach Odessa. Aber die Rumänen, die waren in der Gegend und haben ständig geschossen, jede Stunde. Vater wusste nicht, dass dort Ausgangssperre herrschte. Er ging durch Felder, ging an einem Dorf vorbei. Nach einem Tag erreichte er die Zugstation Towarna, wo die Familie lebte. Erst später verstand er, dass die Rumänen jede Stunde schießen, um einander wissen zu lassen, dass alles in Ordnung ist, und dass es auch für ihn okay ist und er seine Reise fortsetzen kann. Er erreichte sein Haus, wo er von seiner Frau empfangen wurde. Ab diesem Moment kann er sich an nichts mehr erinnern. Er schlief ein und hat drei Tage lang geschlafen. Als er aufwachte und seine Frau Nastja ihm zu essen gab, sah er eine Schlange von Frauen, Schwestern und Evakuierten im Flur stehen. Die waren gekommen, weil sie gehört hatten, Filja sei zurückgekehrt. Und sie wollten nach ihren Verwandten fragen, ob er jemanden gesehen hat und was er gesehen hat.

 

Dann musste er arbeiten gehen, denn man musste von etwas leben: zwei Kinder, Hunger, Krieg. Eine Weile suchte er, und dann ging er wieder in die Kranbaufabrik von Odessa, um für Deutsche zu arbeiten. Einen Monat lang hat er da gearbeitet, dann packte er sein Hab und Gut und zog mit seiner Familie zu seinen Eltern, die auf dem Dorf lebten. Während der ganzen deutschen Besatzung blieben sie dort. Vater hat ständig was repariert für die Leute, mal eine Nähmaschine, mal was anderes.

 

Als es klar wurde, dass unsere Soldaten wohl bald einmarschieren würden, wollten die Deutschen alle jungen Männer erschießen. Es wurde höchste Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Vaters Brüder haben sich irgendwo versteckt, er selbst hat sich zusammen mit seinen Nachbarn an einem anderen Ort versteckt als sie, irgendwo im Schuppen oder im Keller. Aber seine Brüder wurden gefunden und erschossen, alle drei. Ihre Namen sind am Denkmal im Dorf gemeißelt.

 

Vater blieb am Leben. Da er unter der deutschen Besatzung gelebt hatte, wurde er in die Strafbataillone versetzt. Alle wurden in die Strafbataillone versetzt. Und er nahm an der Jassy-Kischinau-Offensive teil. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Brückenkopf von Chițcani. Er hat schreckliche Dinge erzählt. Es war der 26. August 1944. Er hatte weder Wasser noch Essen. In seinem Schützengraben bildete sich schon eine Brustwehr aus Leichen. In der Nacht lieferte man ab und zu ein bisschen was zu essen und zu trinken, denn Wasser konnte man nirgendwo finden. Und Salz gab es auch nicht. Es war Hölle auf Erden, aber Vater überlebte. Dann mussten alle Einheiten neu zusammengesetzt werden und alle wurden weggeschickt. Da traf mein Vater den Politoffizier von seiner Fabrik. Der erkannte ihn und nahm ihn in seine Bataillone auf. Bis zum Ende des Krieges diente Vater dort.

 

Er kämpfte in Polen. Da er in der Strafbataillone war, wurde er als erster ins Minenfeld geschickt. Die ganze Zeit trug er seine Geburtsurkunde und das Bild vom Heiligen Philippus, auf der stand, wann er geboren und getauft wurde. Dieses Bild haben wir auch heute noch. Vielleicht sollten wir es laminieren lassen.

 

Er nahm an der Befreiung von Berlin und Warschau teil. Schreckliche Dinge hat er über die Befreiung von Berlin erzählt. Auf dem Weg zum Brandenburger Tor, da fuhren viele Soldaten mit Selbstfahrlafetten hin, und auf dem Boden lagen Menschen: einige verwundet, einige tot, einige noch am Leben; aber allen war das egal, man fuhr über Lebende, über Leichen, über Verwundete. Bis ans Ende seiner Tage konnte Vater nicht vergessen, wie man über lebende Menschen zum Brandenburger Tor fuhr. Das einzige, woran er sich nicht erinnern konnte, war, wie er ins Lazarett kam. Schon später erfuhr er, was passiert war. Gleichzeitig erfolgten zwei Schüsse: Die Flak schoss auf die Selbstfahrlafette und die Selbstfahrlafette schoss auf die Flak. So kam es, dass sie einander gegenseitig vernichtet haben. Der Kommandeur blieb am Leben, aber er wurde am Kiefer schrecklich verletzt, man hat ihn später operiert. Und eine Hirnprellung hat er auch davongetragen. Vater hatte auch eine Hirnprellung, dazu kam noch eine äußerst schwere Rückenverbrennung. Sein ganzes Leben lang litt er darunter, jede Berührung tat ihm weh… Pylyp starb 2000. Das heißt, nach 1945 litt er noch 55 Jahre lang an Rückenschmerzen, deshalb schlief er auf der Seite oder auf dem Bauch. Auf dem Rücken schlief er auch, aber Berührungen taten ihm immer weh. Sogar die Kleidung tat ihm schon weh. Wahrscheinlich verlies er 1945 zu früh das Lazarett. Genau genommen floh er aus dem Lazarett, denn seine Bataillone ging nach Osten, nach Japan. Er wollte seine Kameraden einholen. Man wollte ihm einen Behindertenausweis geben, aber das hat Vater abgelehnt. Hat seine Kameraden schließlich eingeholt. Aber dann wurde er doch aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen. Dann kehrte er nach Odessa zurück und nahm seine Arbeit in der Fabrik wieder auf.

 

Er arbeitete dort, aber in Odessa herrschte Hunger. Da zogen sie zu den Eltern seiner Frau nach Wosnessensk. Dort lebten sie, aber dann ließen sie sich scheiden und gingen auseinander. Und später traf er die Mutter von meiner Oma.

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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