Familiengeschichten
Rajisa Tokarewytsch
Interview aufgezeichnet: von Yuliia Gaman Novohrodivka, Donetsk oblast, Ukraine 20.11.2020

Rajisa Tokarewytsch

Dies ist die Geschichte eines russischen Mädchens, die die Hungersnot überlebte, sich an die sowjetischen Kolchosen [landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der Sowjetunion – A. d. Ü.] erinnert und alles überwinden konnte, indem sie in der Ukraine ihre Rettung fand. Es geht um meine Oma, die Russin ist. Ihre Kindheit – sie wurde 1943 geboren – verbrachte sie im sowjetischen Russland. Neben diesem Interview sind ihre schmerzvollsten Erinnerungen die von der Hungersnot und wie es ihre Familie traf. Sie lebten in einer kleinen Hütte (als ich klein war, habe ich diese Hütte gesehen). Meine Oma lebte mit ihren Eltern, ihrer Oma, ihrer Tante und ihrem Bruder zusammen. Sie erinnert sich noch an den Wasserbauch ihrer Mutter während der Hungersnot und wie ihr Bruder Tolja damals fast gestorben wäre, und wie ihr Vater (Lehrer, Kolchose-Vorsitzender) an der Front verwundet wurde. Oma erzählte auch, wie sie und ihr Bruder die Hausaufgaben machten: Sie hatten nur einen kleinen Tisch und als Beleuchtung diente ihnen nur eine einzige Kerze, die sie abwechselnd benutzten. Trotz der elenden Verhältnisse versuchte sie das zu machen, was sie geistig bereicherte und inspirierte: Im Geheimen von ihrem Vater stickte sie Bilder, bei Dunkelheit saß sie auf dem Ofen [gemeint wird ein traditioneller gemauerter oder aus Lehm gebauter ukrainischer Ofen, der zum Heizen, zum Kochen und zum Darauf-schlafen geeignet ist – A. d. Ü.] und stickte. Heute sind wir sehr stolz auf diese Bilder. Oma hatte kein einfaches Leben. Hört euch das Interview an, von aufrichtigen Gefühlen geprägt und die Erinnerungen aus meiner Familie schildernd.

Ich heiße Rajisa Tokarewytsch. Ich wurde in Russland geboren, im Dorf Beloje der Oblast Kursk.
 
In welchem Jahr?
 
Im Juli 1943.
 
Erzähl bitte von deiner Kindheit, von deinen Eltern.
 
Tja, meine Kindheit… Als ich geboren wurde, tobte bereits der Krieg. Also, was mir in Erinnerung geblieben ist… [weint] Meine Kindheit war sehr schwer. Wir haben gehungert [weint]. Ich weiß noch, als ich klein war, da habe ich bei uns im Gemüsegarten faulige Kartoffeln gesammelt, Mutter hat Kartoffelpuffer daraus gemacht, Borschtsch [traditionelle ukrainische Rote-Bete-Suppe – A. d. Ü.] hat sie aus Melden und verschiedenen Wildkräutern zubereitet [weint]. Presskuchen haben wir gegessen. Man sagte uns, das wär’ lecker, man sagte uns, das wär’ süß [weint]. Die Zeiten waren sehr schwer. Aber dann ging ich doch in die Schule. Mein Papa war Lehrer. Meine Mutter war Kolchose-Arbeiterin, konnte nicht lesen und scheiben, aber Vater konnte das natürlich. Als ihm die Hand durchschossen wurde, in den Zeiten de Krieges, da wurde er nicht eingezogen, er blieb zu Hause, hat gelehrt. Dann wurde er zum Kolchose-Vorsitzenden, aber wir waren trotzdem sehr, sehr arm.
 
Meine Mutter arbeitete und hatte nichts zum Anziehen. Ich weiß noch, sie hatte ein zerrissenes grünes Hemd. Es war kalt, und sie musste in aller Frühe zur Arbeit, Weizen oder Roggen mähen. Sie weinte, weil sie nichts zum Anziehen hatte [weint]. Diese Erinnerungen schmerzen so sehr [weint]. Wie haben gehungert. Mutter hatte da immer ein Stückchen Brot, das sie in zwei Teile teilte: für mich und meinen Bruder. Dann wurde alles ein bisschen besser. Das Leben war schwer. Wir waren sechs in unserer Hütte: unsere Tante, Oma, Mutter, Vater, mein Bruder und ich. Und die Hütte war wirklich klein… Und wir hatten da auch eine Kuh. Da war es nicht so schlecht. Später wurde uns die Kuh aber weggenommen, da haben wir alle geweint [weint]. Ich weiß noch, Mutter hat da zwei kleine Tassen Milch gebracht und uns gegeben, meinem Bruder und mir, und sie sagte: „Trinkt, Kinder, denn die Kuh nimmt man uns nun weg, dann haben wir keine Milch mehr.“ [weint].
 
Dann wurde alles ein bisschen besser.
 
Ich besuchte die Schule und machte meinen Schulabschluss. Unsere Eltern machten alles für uns. Sie versorgten uns mit all dem Nötigsten. Das heißt, mit Essen und Kleidung. Mein Vater [Pause] wollte, dass ich von der Kolchose wegkam, denn man wollte damals, dass Kinder dort bleiben und auf der Kolchose arbeiten. Aber Vater wollte, dass ich wegkam. Wir hatten Verwandte in der Stadt Nowohrodiwka, Donbas. Und ich musste mir einen Pass machen lassen. Daran erinnere ich mich noch sehr gut. Man wollte mir keinen Pass geben, man wollte nicht, dass ich wegkam. Ich habe geweint, musste mehrmals aufs Amt. Man hat meinem Papa Geld dafür abverlangt, sonst würden sie mich nicht gehen lassen, hieß es. Mit Mühe und Not bekam ich dann meinen Pass und ging nach Nowohrodiwka.
 
Papa wollte nicht, dass ich so schwer arbeitete wie unsere Familie. In Nowohorodiwka arbeitete ich zuerst als Tagelöhnerin, in der Mine, später wurde ich schon wirklich eingestellt. Ich arbeitete beim Transport, das heißt beim Beladen der Waggons, und später machte man mich zur Steigerin, weil ich so ein braves, fleißiges Mädchen war [lacht]. Hier habe ich meinen Mann, Jurij, kennengelernt, der auch in er Mine arbeitete, über 40 Jahre hat er dort gearbeitet.
 
Wie alt warst du, als du hier angekommen bist?
 
Als ich ankam, war ich gerade 17. Als Tagelöhnerin musste ich arbeiten. Ich war noch nicht volljährig. Dann heiratete ich meinen Mann. Als er von der Armee zurückkehrte, da bekam er gerade eine Wohnung vom Staat. Eine Zweizimmerwohnung war das. Für Bergleute gab es eine Wohnwarteschlange: Mann musste warten, bis man eine Wohnung bekam. Und dann zogen wir in eine Zweizimmerwohnung ein.
 
Als in deiner Kindheit die große Hungersnot herrschte, hat man da etwas von der sowjetischen Regierung gesagt? Was hat die Regierung dagegen unternommen? Gab es Auszahnungen oder Lebensmittel, die man verteilte? Etwas?
 
Naja, ich war damals klein. Keine Ahnung, was die Regierung da so gemacht hat. Ich weiß noch, als ich schon in der Schule war, da starb Stalin. Wir gingen zu irgendeiner alten Frau und hörten seiner Beerdigung im Radio zu, da weinten alle. Alle weinten, als er beerdigt wurde. Und dann, nach Stalin…also, es gab dann viele, aber keiner konnte was Vernünftiges für die Menschen tun. Meine Eltern sagten mal, es gab doch einen, der relativ gut war, den Malenkow. Mama sagte, da kriegten alle Kolchose-Arbeiter sofort viel Zucker und Getreide. Dank Malenkow wurde es für sie besser. Aber man hat ihn schnell weggeräumt.
 
Kannst du etwas zum Thema sowjetische Regierung hinzufügen? Als du schon erwachen warst, vielleicht haben da di Menschen etwas gesagt, sich dazu irgendwie geäußert?
 
Naja, was kann ich denn schon sagen… Die Regierung – egal welche – war schon immer so ziemlich nutzlos, konnten für die Menschen nie was Gutes tun… Wer auch gewählt wurde, die konnten nie dafür sorgen, dass Frieden herrscht und es den Menschen gutgeht… Klar, als ich in die Ukraine kam, da habe ich einen Bergmann geheiratet – und die verdienten damals gutes Geld. Deshalb haben wir jetzt ein gutes Leben, wir haben alles Nötige. Man ist jetzt aber etwas sauer, weil es keine Kohle gibt, man hat nichts zum Heizen. Dann ist man gezwungen, Kohle zu kaufen, obwohl man sein ganzes Leben lang in der Mine gearbeitet hat.
 
Vielen Dank für deine Ehrlichkeit und für das Interview. Hoffentlich wird es nicht unser letztes sein.

Die Interviews werden in den Originalsprachen oder Transkriptionen davon wiedergegeben, unter Berücksichtigung von nationalen, regionalen und individuellen Sprachmerkmalen.

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