Sinaida Laskowa
Sinaida Laskowa wurde am 21. August 1926 im Dorf Hnylosubiwka in einer großen Familie geboren. Sie überlebte die ukrainische Hungersnot bzw. den Völkermord Holodomor von 1932-1933. Meine Urgroßmutter war Zeitzeugin des Zweiten Weltkrieges. Mit 16 wurde sie als Zwangsarbeiterin nach Deutschland transportiert. Dort arbeitete sie zuerst in einer Fabrik und dann in der lokalen Kneipe, wo die Bevölkerung gern Bier trank. Nach dem Krieg kehrte meine Urgroßmutter zurück, zusammen mit vielen KZ-Häftlingen, die schrecklich aussahen. Sie heiratete und bekam drei Kinder. Bis ans Ende ihrer Tage wurde Sinaida Laskowa von vielen Menschen als eine sehr vornehme, ehrliche und gutherzige Frau beschrieben.
Also, Mutter wurde am 21. August 1926 geboren, ihre Eltern arbeiteten auf der Kolchose, einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der Sowjetunion. Meine Mutter hatte vier Brüder: Onkel Sascha, Onkel Andrjuscha, Onkel Wanja und Onkel Witja – er war der jüngste. Sie hatte noch eine Schwester, Tante Lusja. Die Familie war also eher groß. Nun, alle arbeiteten viel und führten auch ganz schön fleißig den Haushalt, dadurch konnten sie überleben. Sie wurden geboren und lebten im Dorf Troitskij (ehemalige Hnylosubiwka), nahe Mariupol, ihr Haus stand auf dem Hügel und in der Nähe gab es einen Fluss, den Kalmius. Dieser Fluss half der Familie sehr, denn da konnte man fischen. Das machten mein Opa und meine Mutter, denn ihre Brüder arbeiteten stets in den Fabriken oder sonst wo, waren selten zu Hause, deshalb half meine Mutter dem Opa. Sie benutzten eine Reuse. Heute ist Fischen mit einer Reuse verboten, aber damals durfte man alles tun. Bei ihnen gab es immer Fisch: frisch sowie getrocknet. Getrockneten Fisch lagerten sie auf dem Dachboden.
Ihre Eltern hielten Vieh und hatten einen Gemüsegarten, den Kindern fehlte also nichts. Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, sind ihre Geschichten über den Fluss. Alle guten Erinnerungen waren eben mit diesem Fluss verbunden. Wie sie – noch vor dem Krieg – zusammen mit ihrem Vater und den Brüdern schwimmen oder angeln ging… Eine gute, glückliche Kindheit.
Und wie war sie in der Schule? Und welche Bildung hatte sie?
Ich kann nicht sagen, wie sie in der Schule war. Da hat sie nie was erzählt. Aber so wie sie war – sehr intelligent, sehr klug. Bis ans Ende ihrer Tage, und sie starb drei Tage vor ihrem 90. Geburtstag, erinnerte sie sich ganz gut an viele deutsche Lieder, Gedichte und Sprichwörter. Sehr intelligent. Und ein hervorragendes Gedächtnis hatte sie auch noch. Deshalb glaube ich, dass sie gut in der Schule war. Nach der allgemeinbildenden Schule besuchte sie die Fachschule bei einer Textilfabrik.
Hat sie etwas über den Holodomor von 1932-1933 erzählt?
Von dem, was sie erzählt hat, weiß ich, dass es für ihre Familie nicht so schlecht war. 1926 war sie gerade sechs Jahre alt. Sie erzählte, dass sie eine Kuh hatten und auch sonst noch was, eine kleine Landwirtschaft eben. Das half enorm. Und einmal hörte sie, der Kuh war ein Denkmal gebaut worden. „Richtig so!“, sagte sie. Denn ohne Kühe hätte man damals nicht überlebt.
Und welche Emotionen hatten Sie, wenn sie über den Holodomor erzählte und wie sie überlebten?
Naja, welche Emotionen konnte ich denn gehabt haben? Es gab damals so viele Kinder, sie taten mir alle leid. Ich war froh, dass unserer Mutter all die Schrecken des Holodomors erspart geblieben waren, aber es gab ja auch so viele, die nicht so viel Glück hatten. Sie erzählte, wie manchmal Nachbarn kamen. Und so kommt ein Kind, und da gibt sie ihm eine Handvoll Tworog [russischer Hüttenkäse – A. d. Ü.], denn sie hatten ja eine Kuh, und das Kind stopft sich alles gierig in den Mund. Einfach zum Heulen, diese Geschichten.
Und was passierte der Urgroßmutter während des Zweiten Weltkrieges? Wie kam sie nach Deutschland?
Als die Deutschen in Mariupol einmarschierten, wurde sie als Zwangsarbeiterin nach Deutschland transportiert. Alles war so, wie es jetzt in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften steht. So erzählte sie das auch: Wie Viecher trieb man sie in die Waggons und fuhr nach Deutschland. Wer unterwegs starb, wurde einfach rausgeworfen, und wer es nach Deutschland schaffte – naja, der schaffte es eben. Am Anfang landete sie in einer Fabrik. Einer großen, erzählte sie. Da hausten sie in Baracken, drei Tage hatte sie in der Fabrik gearbeitet, und am Abend des vierten Tages kamen diese Bayer, wie sie sagte. Sie und zwei andere Mädchen wurden ausgewählt. Das eine Mädchen stammte aus Polen und das andere aus Slowenien… da erinnere ich mich nicht mehr so genau. Und dann brachte man sie in eine kleine Siedlung. Die Bayer hatten ein Café oder eine Kneipe. Mutter und die zwei anderen Mädchen mussten kochen, aufräumen und Gäste bewirten, meist waren es Zivilisten, sie kamen, um ein Bier zu trinken oder so was. Soldaten gab es dort keine. Und behandelt wurden die Mädchen ganz gut. Nach dem Krieg schrieb Mutter einen Brief nach Deutschland, in den 80ern schon. Der Sohn der Bayern hat ihren Brief beantwortet, seine Eltern lebten nicht mehr. Und Mutter hat er nach Deutschland eingeladen.
Vielleicht erzählte sie auch über den Alltag? Oder wie sie Feste feierten?
Aber nein doch. Kochen, aufräumen und servieren – das waren all ihre Feste.
Welche Emotionen hatten Sie, wenn sie das erzählte?
Ein 16-jähriges Mädchen, das den Eltern weggenommen und Gott weiß wohin verschleppt wurde. Sie tat mir leid.
Was ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben von all dem, was Urgroßmutter erzählt hat?
Ich kannte Oma seit 45 Jahren, seit ich ihren Sohn heiratete. Und immer waren all ihre Geschichten so faszinierend. Und so würde plötzlich irgendeine Erinnerung auftauchen, und wir würden uns um sie herum setzen – wie kleine Kinder, obwohl alle schon erwachsen – und ihr völlig ergriffen lauschen. Wie sie von der Befreiung erzählte, da sitze ich und bekomme jetzt noch Gänsehaut davon. Da kamen unsere sowjetischen Soldaten und sagten: „Geht dahin.“ Das taten die Mädchen. Und da waren Offiziere einquartiert. Die fragten sie: „Wer seid ihr? Könnt ihr kochen? Geht in die Kantine, da könnt ihr uns Essen zubereiten.“ Ach ja, da gab es noch diese Geschichte, da kriege ich jedes Mal Gänsehaut, da erzählte sie, wie sie fuhren, und vor einem Lager, ich weiß nicht mehr, vor was für einem, da machten sie einen Stopp, um die Überlebenden von dort mitzunehmen. Sie sagte immer: „Gott bewahre, so was noch einmal zu sehen. Es war so schrecklich. Wir hatten Angst, sie anzufassen, denn sie sahen so gebrechlich aus, so dürr und ausgemagert waren sie… Man ließ sie nicht essen, sonst hätten sie womöglich eine Darmverschlingung bekommen. Uns gab man was, aber wir saßen da und aßen auch nichts, denn sie durften ja nicht essen.“
Vielleicht haben andere Gefangene was erzählt, die mit ihr in einem Waggon gefahren sind?
Sie erzählte noch, wie man Gefangene gefoltert hatte und dass tausende von Menschen ermordet worden waren.
Wenn Sie einen Gegenstand nennen sollten, den Sie mit Urgroßmutter assoziieren, was für ein Gegenstand wäre das?
45 Jahre lang versammelte sich die ganze Familie dreimal jährlich bei ihr, an ihrem Geburtstag, am 8. März und an Weihnachten. Die ganze Familie kam zusammen: meine Kinder, meine Enkel, die Kinder des ältesten Sohnes, die Familie der Tochter, alle halt, so bis zu 20 Personen. Und dann aßen sich alle sat und waren glücklich, weil wir Mutter hatten… Als Hausfrau hatte sie viele Fertigkeiten aus Deutschland mitgenommen. Ihre Spezialität war Fisch, in Gewürzen gekocht und mit eingelegten Zwiebeln, sehr pikant. Für diesen Salat nahm sie immer ausschließlich Zanderbacken… Das ist sehr lecker und sehr schön. Aus Deutschland hatte sie, würde ich mal sagen, die Umgangsformen mitgebracht. Man muss es gesehen und sie gekannt haben, um zu verstehen, dass keine Ausbildung, kein Beruf einen Menschen so vornehm hätten machen können, das muss man einfach in sich haben. Und das tat sie, so meinten alle, auch ich. Sie war eine vornehme, gebildete, liebe, warmherzige und ehrliche Frau.
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